Das Freundschaftsideal Augustins

unter besonderer Berücksichtigung seines Briefes 258

Stefan Ihli

 

Online-Version: August 2002 - Alle Rechte vorbehalten.

 

Inhaltsverzeichnis

A. Einleitung

I. Einführung

II. Zum Stand der Forschung

III. Zur Vorgehensweise

IV. Hintergrundinformationen

1. Augustins Lebenslauf

2. Fundstellen zum Thema Freundschaft bei Augustin

3. Der Manichäismus

4. Der Neuplatonismus

B. Hauptteil

I. Die Kinder- und Jugendfreundschaften

1. Augustins Veranlagung zur Freundschaft

2. Die frühen Freundschaften

II. Die Freundschaften des bekehrten Augustin

1. Der Wandel im Freundschaftsverständnis Augustins

2. Das Freundschaftsideal des erwachsenen Augustin

a) Der Ursprung der christlichen Freundschaft

b) Die Ausgestaltung der christlichen Freundschaft

c) Die Pflichten der christlichen Freundschaft

(1) Liebe

(2) Vertrauen

(3) Offenheit

(4) Gebet

d) Das Ziel der christlichen Freundschaft

3. Das Freundschaftsideal im Brief 258

4. Die Beeinflussung Augustins durch das Freundschaftsverständnis Ciceros

III. Freundschaft und Nächstenliebe beim späten Augustin

C. Fazit: Das Freundschaftsideal Augustins

Anhang: Übersetzung von Augustins Brief 258

Literaturverzeichnis

 

 

A. Einleitung

I. Einführung

Zu allen Zeiten haben die Philosophen über eine der bedeutendsten Arten zwischenmenschlicher Beziehungen, die Freundschaft, nachgedacht und eigene Konzeptionen und Idealvorstellungen dazu entwickelt. Besonders in der Antike finden sich zahlreiche Werke, die ganz oder zum Teil explizit diesem Thema gewidmet sind. Im Ausgang der Antike hat sich auch der nach allgemeiner Auffassung größte Kirchenvater überhaupt und zugleich „größte Psychologe unter den Kirchenvätern" 1, Augustin, seine Gedanken über die Freundschaft gemacht. Seine Überlegungen blieben nicht theoretisch, er lebte sie, hat „sich immer um Freunde beworben" 2. Bei Augustins insgesamt vielgestaltigem Leben ist die Frage, was seine Ansichten zum Thema Freundschaft sind, von besonderem Interesse. Einer Antwort auf diese Frage soll im Folgenden nachgegangen werden.

 

II. Zum Stand der Forschung

Ebenso wie Augustin in allen Aspekten seines Lebens sehr gut erforscht ist, findet sich zum hier behandelten Thema eine relativ große Anzahl an Monographien und Aufsätzen. Dabei liegt das Schwergewicht, besonders bei neueren Arbeiten, eindeutig auf angelsächsischen Publikationen. Die neuesten Arbeiten sind durchweg Aufsätze. Es ist auffallend, daß unter den Forschern ein breiter Konsens herrscht; es läßt sich keine größere Kontroverse über eine bestimmte Detailfrage erkennen. Auch kann bei den aktuelleren Erscheinungen nicht von größeren neuen Erkenntnissen gesprochen werden. Anzumerken ist noch, daß der Aufsatz Geerlings’ als eine Zusammenfassung des theoretischen Teils der Monographie McNamaras angesehen werden kann. Er entspricht diesem in Aufbau und Inhalt.

 

III. Zur Vorgehensweise

Angesichts dieser guten Literatursituation kann es im Rahmen der vorliegenden Ausführungen nicht die Aufgabe sein, Augustins Schriften im Hinblick auf Aussagen zur Freundschaft erneut zu sichten. Dazu sind diese bei weitem zu umfangreich und die entsprechenden Textpassagen zu verstreut. Die vorliegende Arbeit versucht, unter Berücksichtigung der wichtigsten Aussagen Augustins und vor allem seines Briefes 258, an Hand der Sekundärliteratur einen Überblick über Augustins Ansichten und Idealvorstellungen zum Thema Freundschaft zu geben. Dabei sollen zunächst noch kurz notwendige Hintergrundinformationen gegeben werden, die zum Verständnis der Problematik unerläßlich sind: Augustins Lebenslauf sowie knappe Ausführungen zu Manichäismus und Neuplatonismus. Die Thematik soll dann chronologisch ausgearbeitet werden. Der Brief 258 wird dabei in den sachlichen Zusammenhang gestellt.

 

IV. Hintergrundinformationen

1. Augustins Lebenslauf3

Augustin wurde am 13. November 354 in Thagaste4 geboren. Sein Vorname Aurelius ist wahrscheinlich nicht echt, sondern ein Mißverständnis. 5 Sein Vater Patricius war ein städtischer Beamter, jedoch nicht wohlhabend. Er war die meiste Zeit seines Lebens Heide und bekehrte sich erst gegen Lebensende auf Betreiben seiner Frau zum Christentum. Demzufolge hatte er wenig religiösen Einfluß auf Augustin; er legte eher Wert auf eine angemessene Ausbildung. Dennoch war er auf Frieden in der Familie bedacht6; bei seinem Tod 370 empfand Augustin einen großen Verlust7. Augustins Mutter Monnica (oder: Monica), geboren 311, gestorben 387, war dagegen gläubige Christin. Sie legte aber auch größeren Wert auf eine adäquate Ausbildung für ihren Sohn. 8 Daher ließ sie ihn nicht taufen. Als Augustin schwer erkrankte und um die Taufe bat, wurde er dazu angemeldet; als er vor der Taufe wieder genas, wurde er auf Wunsch der Mutter wieder abgemeldet und verblieb nur im Katechumenat. Augustin hatte eine ältere Schwester mit unbekanntem Namen, die als Witwe Superior im Kloster in Hippo wurde, einen Bruder, Navigius, einen Neffen, Patricius, mehrere Nichten und vielleicht noch andere Geschwister. All diese waren christlich. Augustin war begabter als seine Geschwister. Er erhielt seinen ersten Unterricht in Lesen, Schreiben, Rechnen, Grammatik, Stilistik, Metrik, klassischer Literatur und Griechisch in Thagaste. Griechisch bereitete ihm große Mühe. Dann setzte er den Grammatikunterricht im benachbarten Madauros fort, hinzu kam Rhetorikunterricht. 371 setzte er seine Rhetorikstudien in Karthago fort. Dort begann er bald ein Konkubinat mit einer Frau, deren Name nicht bekannt ist; 372 wurde sein (unerwünschter) Sohn Adeodatus geboren. In seinem 19. Lebensjahr las Augustin im Rahmen seines Unterrichts Ciceros verlorengegangene Schrift Hortensius. Dort stellt Cicero die These auf (soweit die Schrift rekonstruiert werden kann), daß das Glück, nach dem die Menschen zielen, durch Erstreben der Tugend erreicht werde. Diese sei aber nicht von der Suche nach Weisheit bzw. Wahrheit zu trennen. Beeindruckt von der Lektüre, suchte Augustin ab jetzt die Wahrheit. Diese lag für ihn nicht im katholischen Christentum, da die Bibel, die er nur wörtlich verstand, ihn abstieß bzw. er sie nicht begriff. Daher wandte er sich zunächst dem Manichäismus zu und blieb im Stand eines Auditors (s. u.) bei dieser Sekte. 375 kehrte er nach Thagaste zurück, um dort zu lehren. Seine Mutter verwehrte ihm den Zutritt zum Elternhaus aus Verbitterung über den häretischen Glauben des Sohnes. Nach etwa einem Jahr lehrte er in Karthago. Während dieser Zeit nahmen seine Zweifel am Manichäismus zu, da dieser ihm seine Fragen nicht beantworten konnte, was seinen Höhepunkt fand in der Enttäuschung über den Manichäerbischof Faustus von Mileve, der Augustin auch nicht weiterhelfen konnte9. Aus Ärger über die ungezogenen Schüler siedelte Augustin 383 nach Rom über. Für kurze Zeit interessierte er sich für den akademischen Skeptizismus. 384 erhielt er durch Fürsprache des römischen Stadtpräfekten Symmachus und manichäischer Freunde die Rhetorikprofessur in Mailand. Hier traf er auf Ambrosius; er hörte dessen Predigten an, um zu beurteilen, ob Ambrosius’ Ruhm als Rhetor gerechtfertigt war. Diese Predigten mit einer allegorischen Bibelauslegung brachten Augustin nach und nach dem katholischen Christentum näher. Die Mutter war Augustin nachgereist und wollte ihn standesgemäß verheiraten. Es kam zu einem Verlöbnis mit einem noch nicht heiratsfähigen Mädchen. Dies führte zum Ende seines Konkubinates. Aus Trauer darüber nahm sich Augustin eine andere Konkubine. Augustin begegnete dann dem Neuplatonismus10, durch den seine Zweifel weiter aufgeklärt wurden; er las auch die Paulinischen Briefe. Um den 1. August 386 kam es mit der bekannten Gartenszene zum entscheidenden Bekehrungserlebnis. Als Augustin in seinem Garten aus dem Nachbarhaus eine Kinderstimme „Tolle, lege!" rufen hörte, nahm er die Paulusbriefe zur Hand und las Röm 13, 13f., das er auf sich bezog. Seine Lehrtätigkeit setzte er bis zu den kurz darauf folgenden Herbstferien nur fort, um kein Aufsehen zu erregen. Dann zog er sich mit seiner Mutter, seinem Bruder, seinem Sohn und einigen Freunden auf das Landgut Cassiciacum11 zurück, das seinem Freund Verecundus12 gehörte. Dort widmeten sich alle philosophischen Diskussionen. Im Oktober trat Augustin von seiner Professur zurück. Anfang 387 ging er als Taufbewerber nach Mailand, wo er in der Osternacht (24./25. 4. 387) mit Adeodatus und seinem Freund Alypius13 von Ambrosius getauft wurde. Er reiste dann nach Karthago ab, doch noch in Ostia starb seine Mutter. Den Winter verbrachte Augustin deswegen in Rom. 388 begann er in Thagaste ein klösterliches Leben. Augustin wollte nicht zum Priester oder Bischof gemacht werden (dies entsprach einem alten Mönchsideal). 14 Daher vermied er es, in Städte mit vakantem Bischofssitz zu reisen, nachdem sein Ruhm zugenommen hatte. Als er sich 390/391 in Hippo Regius aufhielt, um einem Freund zu helfen15, der ihn wegen seiner Konversion um Rat gefragt hatte, ernannte ihn der dortige Bischof Valerius unter Zustimmung des Volkes im Gottesdienst aber überraschend zum Presbyter. Augustin gab nach, wurde zum Priester geweiht, studierte kurze Zeit die Bibel, um seiner Aufgabe besser gewachsen zu sein, gründete in Hippo eine klösterliche Gemeinschaft und predigte, was eigentlich dem Bischof vorbehalten war. Wahrscheinlich im Winter 395/396 ernannte Valerius ihn zum Mitbischof, was, in Unkenntnis der Beteiligten, gegen kanonisches Recht verstieß. Nach dem Tode Valerius’ wurde Augustin Bischof von Hippo. Als solcher wohnte er im Bischofspalast, erfüllte alle sich aus dem Amt ergebenden Pflichten, nahm an mehreren Synoden teil und kämpfte besonders gegen Arianer, Donatisten, Manichäer und Pelagianer. Im Jahre 430 rückten die Vandalen gegen Hippo vor. Während der Belagerung starb Augustin am 28. August.

 

2. Fundstellen zum Thema Freundschaft bei Augustin

Augustin hat, im Gegensatz zu mehreren anderen Autoren wie Platon, Aristoteles oder Cicero, sich nicht zusammenhängend oder sogar in einem eigenständigen Werk zur Freundschaft geäußert. „Bei ihm findet man kein System, sondern ein üppiges Wuchern seiner Gedanken (...)."16 Dennoch ist sein Freundschaftsverständnis nicht weniger klar herausgearbeitet. Daraus folgt, daß die entsprechenden Fundstellen weit über sein Werk verstreut sind. Zu den wichtigsten Belegstellen zählt der Brief 258 (s. u.). Weitere Stellen, an denen Augustin sich etwas ausführlicher zu Freundschaft ausläßt, sind Soliloquia I, 7 - 22 (bes. 7f.), Confessiones IV, 7 - 24 (bes. 7 - 13), Brief 130 (bes. 4.13) und De diversis quaestionibus 83, q. 71, 5 - 6. 17 Sonstige Bemerkungen Augustins zur Freundschaft sind kurz und in anderem Zusammenhang stehend.

 

3. Der Manichäismus18

Begründer des Manichäismus war der Babylonier Mani (216 - 274/277). Nach zwei angeblichen Visionen hielt er sich für den letzten in einer Reihe von Gott berufener Propheten, zu denen auch Buddha und Jesus gehörten. Er lehrte, am Anfang der Zeiten habe es zwei getrennte Prinzipien gegeben, das des Geistes (bzw. Gottes / des Guten / des Lichtes) und das der Materie (bzw. des Schlechten / der Finsternis). Dann hätten Dämonen des Bösen das Reich des Guten angegriffen. Gott habe im Kampf gegen sie seine personifizierte Seele, seinen Sohn, eingesetzt. Dieser sei besiegt und das an ihm haftende Licht von den Dämonen verschlungen worden, wodurch beide Prinzipien vermengt worden seien. Nun habe ein komplizierter Heilsprozeß eingesetzt. In diesem sei zunächst der Gottessohn wieder ins Reich des Guten zurückgeholt worden; dann seien aus den Dämonen die Planeten geschaffen worden. Das durch die Materie verunreinigte Licht sei auf die Erde gefallen, wo die Dämonen des Bösen, um es an die Erde zu binden, aus ihm Adam und Eva erschaffen hätten, die somit eine gute Seele aus Licht und einen bösen Leib aus Materie besäßen. Durch einen „Erlöser" sei ihnen dies auch mitgeteilt worden. Da sie sich dennoch fortpflanzten, seien später weitere Propheten nötig geworden, die dies immer wieder verkündeten. Durch Askese und Abstandnehmen von jeder Verunreinigung durch Materie könnten die Menschen erlöst werden. Dies könne im Rahmen der manichäischen Sekte nur von wenigen Vollkommenen (Electi) vollbracht werden; andere (die Auditores) könnten aber erst nach mehrmaliger Wiedergeburt zur Erlösung gelangen. Die Electi hatten sich von Arbeit, Fleisch, Wein und Sexualität zu enthalten. Die Auditores dagegen mußten dies nicht tun, sondern hatten die Electi zu versorgen. Am Ende werde es eine Zeit apokalyptischen Unheils geben, danach das Jüngste Gericht, dann einen Weltenbrand, der 1468 Jahre dauere. Schließlich werde dann wieder Licht von Materie getrennt sein. Die Faszination des Manichäismus für Augustin lag zu Anfang vor allem darin, daß es in dieser Lehre um ein Sich-selbst-Bewußtwerden der Seele ging, die kraft ihres Verstandes ihre Göttlichkeit erkennen sollte. Bedeutsam war für ihn auch die Bibelkritik des Manichäismus, da sie seinen Zweifeln an der Wahrheit der Hl. Schrift entgegenkam. 19

 

4. Der Neuplatonismus20

Der bedeutendste Vertreter des Neuplatonismus war Plotin (205 - 270), der seine Arbeit als weiterführenden und systematisierenden Kommentar zu Platon verstand. Er lehrte, die Welt berge Strahlen eines sich emanierenden prw~ton (Gott bzw. „das Eine"). Die ganze Welt sei ein Organismus bzw. eine Ordnung. Wer sich von der Welt gefangennehmen lasse, erkenne das prw~ton nicht. Auch zerstörten Leidenschaften die gegebene Ordnung. Die Seele aber sehne sich nach ihrem Ursprung zurück, nach geistiger Schau und Tugend. Dazu gelange sie nur, indem sie alle Dinge und auch die Menschen richtig unter das Höhere einordne. Wenn der Mitmensch aktiv seine richtige Einordnung ermögliche, werde er zum Freund. Die neuplatonischen Schriften, die Augustin vor seiner Bekehrung las, dürften (zumindest u. a.) von Plotin gestammt haben. 21

B. Hauptteil

I. Die Kinder- und Jugendfreundschaften

1. Augustins Veranlagung zur Freundschaft

Durch die kaiserliche Regierung, die zur Zeit Augustins herrschte, war die Politik als Betätigungsfeld für das Individuum verbaut. Es bildeten sich daher immer mehr private Zirkel, aus denen sich Freundschaften entwickelten. Insofern war Augustins Zeit insgesamt zu Freundschaft neigend. 22 McNamara legt besonderen Wert auf die Charakterisierung von Augustins afrikanischem Naturell, das ihn zusätzlich bezüglich Freundschaften begünstigt habe. 23 Zu den wichtigsten Charaktereigenschaften des Afrikaners zählten demnach u. a. reiche Vorstellungskraft, (oft übertriebene) Sensibilität, ein mystischer Wesenszug, Sturheit, leidenschaftliches Temperament, harter Wille und klare Vorstellungskraft. Dies resultierte aus dem Einfluß von Karthagern, Berbern und Römern. 24 Wie sehr auch immer Augustin diesem Charakterbild entsprach25, war er jedenfalls ein Mensch „mit einfangendem Charme", „der nur schwer allein Leben konnte" und daher „immer in der Gesellschaft von Freunden (...), die alle Schwenks und Kehrtwendungen mitmachten," 26 lebte. Er hat sich in einem „Drang nach Glückseligkeit" 27 „immer um Freunde beworben" 28, „deren große Freude war, bei ihm sein zu können" 29. Augustin muß einen sehr gewinnenden Charakter gehabt haben, wenn man bedenkt, daß er mehrere Freunde zum Manichäismus und dann wieder zum katholischen Christentum bekehrt hat; sein Freund Alypius empfing mit ihm die Taufe. 30 Dazu trugen auch seine Eltern bei, die ihm passende Eigenschaften vererbten: von seinem Vater erhielt er ein Verlangen nach sinnlichen Genüssen und Ehrgeiz, von seiner Mutter Zärtlichkeit und Verlangen nach Frieden. 31 Was Augustin selbst ihr besonders hoch anrechnete, waren ihre beständigen Gebete um Bekehrung ihres Sohnes, die schließlich erhört wurden. 32 Augustins Leben sollte durchweg von Freundschaften bestimmt sein, und als Leitmotiv kann gelten, was er selbst in seinem Brief 130 an Proba, eine reiche römische Witwe, die nach der Eroberung Roms durch Alarich 410 nach Afrika floh und sich in Karthago als Nonne niederließ, sagte:

„So ist in allen menschlichen Dingen dem Menschen nichts freundlich ohne einen Freund. Aber wie selten wird ein Freund gefunden, über dessen Gesinnung und Charakter in diesem Leben volle Gewißheit besteht! Denn niemand kennt einen anderen so wie er sich selbst kennt, und auch sich selbst kennt niemand so, daß er hinsichtlich seiner morgigen Handlungsweise sicher sein dürfte." 33

 

2. Die frühen Freundschaften

Diese Eigenschaften kamen schon beim frühen Augustin zum Vorschein. In seinen (Schul-)Freund-schaften war er der, der sich anderen anschloß34 und dabei offensichtlich einen zwanghaften Trieb verspürte, diesen zu imponieren. Er fühlte sich von ihnen angezogen und stahl Lebensmittel aus dem Keller seiner Eltern, um seine Kameraden zu beeindrucken, oder benutzte Ausreden, um länger bei ihnen sein zu können. 35 Aus einem „leidenschaftlichen Verlangen nach Vorherrschaft" 36 heraus benutzte er oft Tricks und Vorwände, um sich hervorzutun, war aber „gnadenlos", wenn er dasselbe Verhalten bei anderen entdeckte und gab nicht nach, wenn er dieses Verhaltens beschuldigt wurde, was allerdings seine Freunde nicht abstieß. 37 Seine einzige Sorge war: „sie hätten mich verachtet, wenn ich sündlos blieb, als Schwächling verlacht, je keuscher ich gewesen." 38 Er war regelrecht süchtig, „den Freunden zu gefallen und ihnen gleichgesinnt zu erscheinen". 39 Einbildung, Egoismus und Überheblichkeit waren weitere Kennzeichen Augustins in diesem Lebensabschnitt. 40

Als Augustin dann nach Karthago kam, setzte sich sein derartiges Tun fort. Er stieß zu einer „berüchtigten Studentengruppe" 41, deren sexuell ausschweifendes Leben er teilte42. „Er lief zu den körperlichen Formen [der Freundschaft] und blieb hier stehen." 43 Er erfand auch aus Prahlsucht Schandtaten, die er gar nicht begangen hatte. 44 Besonders eindrücklich für Augustin muß ein gemeinsam mit diesen Kommilitonen begangener Birnendiebstahl gewesen sein. 45

Allerdings muß eindeutig festgestellt werden, daß Augustin nicht alle Schandtaten mitmachte, da er „mitten in seiner Verirrung ein gewisses geistiges Streben nicht verlor". 46 Interessant ist hier vor allem die unterschiedliche Einstufung der Untaten, die Augustin tatsächlich beging — soweit sich diese überhaupt rekonstruieren lassen, da nicht klar ist, wie weit die Confessiones subjektiv gefärbt sind.

Während die Theologische Real-Enzyklopädie heute schreiben kann „Psychologisch verständlich ist (...), daß (...) das ungeordnete Triebleben des jungen Mannes zu allerhand Abenteuern führt (...)"47, versucht Nolte noch, diese Abenteuer als „oft geringfügige Tat" 48 zu verharmlosen und betont besonders, daß Augustin in sittlicher Hinsicht zwar von seinen Gefährten „in die Tiefe des Lasters gezogen" worden sei, aber auf religiösem Gebiet ihr „Verführer" geworden sei. 49 In Anbetracht von Augustins Ruhmsucht erscheint eine Verharmlosung von Augustins Handeln nicht angebracht, ebensowenig aber auch eine Übertreibung. Ein geistiges Interesse war bei Augustin durchaus stets vorhanden. Daher schloß er sich in Karthago dem Manichäismus an, in dessen Reihen ihn nicht zuletzt seine Freundschaften hielten. 50 In der Rückschau wurde auch Augustin selbst klar, daß die Kameradschaften seiner Jugendjahre keine echten Freundschaften gewesen sein konnten. 51 Was hier vorlag, war vielmehr „ein rein menschliches und oberflächliches Ideal von Freundschaft (...), und es unterschied sich kein bißchen von dem der Heiden um [die jungen Männer] herum." 52 Insgesamt fühlte Augustin sich in diesen Zirkeln aber wohl:

[Im Freundeskreis nahm den Geist gefangen] das Sprechen und Scherzen miteinander, das gegenseitige wohlwollende Willfahren, gemeinsames Lesen schön geschriebener Bücher, die Possen, die sich Kameraden untereinander spielen, und die Achtung, die sie sich erweisen, mitunter ein Sichwidersprechen ohne Haß, wie es der Mensch auch mit sich selbst oft tut, und dann einmal auch ein Auseinandergehen der Meinungen, wodurch unsere Gleichgesinntheit an Würze noch gewann, sich gegenseitig etwas lehren und lernen voneinander, schließlich schmerzende Sehnsucht haben nach einem Abwesenden und freudig wieder den Kommenden begrüßen: lauter Zeichen der Liebe und Gegenliebe, die aus dem Herzen kommen, sich durch Mund und Zunge, Augen und tausend gefällige Bewegungen kundtun und wie ein Zündstoff Geister in Gemeinsamkeit entflammen, so daß aus vielen eine Einheit wird." 53

Hier kommt Augustins Sensibilität voll zum Ausdruck. Er wußte Gemeinsamkeit mit Freunden zu genießen. Diese Beschreibung des Freundeslebens „kann nur als eine bewußte Zusammenfassung der klassischen Tradition, wie sie in Ciceros Laelius [zu Cicero vgl. u.] reflektiert wird, gelesen werden, (...)"54 In dieser Zeit entwickelte sich auch eine Beziehung, die man eine erste Freundschaft nennen kann, auch wenn Augustin dies nicht tun würde, da die gemeinsame Religion fehlte: Augustin gewann einen Freund, der in den Confessiones namenlos bleibt, der sich in schwerer Krankheit taufen ließ, während Augustin dem katholischen Christentum noch sehr fern stand. Diesen Freund muß Augustin sehr ins Herz geschlossen haben, denn nach dessen Tod war er verzweifelt:

„Ich hatte ihn auch vom wahren Glauben (...) zu den (...) verderblichen Märchen gelenkt (...) Du hast den Menschen aus diesem Leben fortgenommen, als unsre Freundschaft, die mir süßer war als alle Süßigkeit meines damaligen Lebens, kaum ein Jahr gedauert hatte. (...) Fieberkrank lag er lange bewußtlos in Todesschweiß, und als er aufgegeben wurde, ist er getauft worden, ohne es zu wissen. (...) Er erholte sich, genas, und da ich ihn überhaupt nicht verlassen hatte, weil wir uns so liebten, begann ich gleich, als er soweit war, (...) über die Taufe zu spotten, die er als völlig Geistes- und Sinnesabwesender empfangen hatte, in der Annahme, daß auch er darüber spotten würde. Er war allerdings inzwischen von ihrem Empfang unterrichtet worden und (...) erklärte mit einer (...) ganz unerwarteten Selbständigkeit, ich müsse, wenn ich sein Freund bleiben wolle, es unterlassen, so darüber zu ihm zu sprechen. (...) [Dann starb der Freund nach einem Rückfall.] Durch diesen Schmerz kam eine tiefe Finsternis über mein Herz, und wo ich hinsah, war der Tod. Die heimatliche Stadt war mir zur Qual (...). Überall suchten meine Augen ihn, und er wurde mir nicht gegeben (...) Und wenn ich zu ihr [Augustins Seele] sagte: Hoffe auf Gott, so gehorchte sie nicht und hatte recht, weil dieser Mensch, den sie als Teuerstes verloren hatte, besser war (...) als das Trugbild, das ich ihr als Hoffnung gab [!]. (...) Ich wunderte mich nämlich, daß die übrigen Sterblichen lebten, wo er gestorben war, den ich so liebte, daß er gleichsam nie hätte sterben dürfen, und noch mehr wunderte mich, daß ich als sein anderes Ich seinen Tod überlebte. (...) Denn ich habe meine und seine Seele als eine einzige in zwei Körpern empfunden, und deshalb schauderte mich vor dem Leben, weil ich nicht als Halber leben wollte, und deshalb fürchtete ich vielleicht zu sterben, weil er, den ich so sehr geliebt, dann ganz gestorben wäre." 55

Wenngleich hier noch einmal ganz deutlich Augustins jugendliches, seinen Kumpanen angepaßtes Verhalten zum Ausdruck kommt, leuchtet zugleich zum ersten Mal eine Charaktereigenschaft auf, die für Augustins zukünftige Freundschaften sehr bedeutsam werden sollte: seine treue Zuneigung, die sich auf einen Menschen bezog, nicht auf eine Gruppe, der man gefallen mußte und damit auch nicht auf eine Tat, mit der man angeben konnte. Dies leitet über zu den reifen Freundschaften des bekehrten Augustin.

 

II. Die Freundschaften des bekehrten Augustin

1. Der Wandel im Freundschaftsverständnis Augustins

Seine bisherigen Kumpane stießen Augustin zusehends ab. 56 An seinen damaligen Beziehungen entdeckte Augustin immer mehr einen entscheidenden Mangel, den er zunächst nicht zu definieren wußte57, später als das Fehlen einer gemeinsamen Religion erkannte, weshalb er auch im Nachhinein sein Verhältnis zum namenlosen Freund nicht als wahre Freundschaft ansah (Confessiones IV, 7). Im Bewußtsein dieses Mangels „sucht er sich nun denen zu nahen, die ihn im Streben nach Weisheit begleiten wollen." 58 Augustin bildete mit Alypius und Nebridius59, seinen beiden besten Freunden seines ganzen Lebens, einen „Freundschaftsbund", der „zum Geistigen, zur Erforschung der Wahrheit dienen" 60 sollte. Zunächst hatte dieser Zusammenschluß der Freunde eher noch „ein negatives Gepräge; eben die Verbitterung und Unzufriedenheit mit ihrem Leben." 61 Dies änderte sich bald, als Augustin den Neuplatonismus kennenlernte. Durch diesen begriff er das Christentum als leitende, treibende Kraft und die Idee von der zentralen Stellung der Religion ließ ihn nicht mehr los. Seine Bekehrung brachte dann für Augustin „eine Rückkehr zur Frömmigkeit seiner Kindheit" 62, denn noch „in seinen frühen Tagen von Karthago war Augustin immer noch dem Christentum treu, ein Liebhaber von dessen Riten und besonders der Osterzeremonien" 63. In Cassiciacum, wo Augustin alle versammelt hatte, die mit ihm auf die Suche nach Wahrheit, Weisheit und Erkenntnis gehen wollten, wollte er jene „zum Religiösen (...) begeistern" 64. Die kleine Gruppe beschäftigte sich mit Diskussionen, klassischer Lektüre (z. B. Vergil), Schriftlesungen und Psalmengesang, wodurch der Traum Augustins von einer vita communis, der im Zuge seiner Bekehrung entstanden war, verwirklicht wurde — zum ersten Mal; weitere Realisationen folgten in den Klöstern in Thagaste und Hippo. In Cassiciacum faßte Augustin das, was er beim namenlosen Freund als Mangel entdeckt hatte, zum ersten Mal positiv und zwar gegenüber Alypius; beide seien wahre Freunde, da sie in Gott vereint seien. 65 Mangelnde Übereinstimmung in der Konfession wurde sogar zum Hindernis für eine Freundschaft, wie z. B. gegenüber Romanianus66; da Augustin fühlte, daß „seine Liebe zu allen Menschen in [seinem Herz] verwurzelt sein muß" 67 (ein Gedanke, der später noch deutlicher zum Ausdruck kommt), konnte er nicht länger sein Freund bleiben, falls dieser sich nicht auch taufen ließ. Dies geschah nicht; die Freundschaft fand ein Ende. In diesem neuen Freundschaftsideal war Augustin „kompromißlos (...). Nun waren nur die seine engen Freunde, die bereit waren, sich zuerst in den Dienst der Kirche zu stellen." 68 Von jetzt ab galt: „Die Religion, also Gott, ist das Bindende, das Tragende in dieser Freundesgemeinschaft und alles Streben geht auf die letzte, heilige Gemeinschaft, auf die katholische Kirche." „Gott und in ihm der Mensch: das ist nun das werdende Ideal der Freundschaftsliebe bei Augustin." 69 Als Definition der Freundschaft in der Zeit in Cassiciacum kann gelten: Freundschaft ist eine Liebe zu einem rationalen Wesen, das nach Gott strebt; es gibt dabei eine physische und eine geistige Anziehung, wobei die physische kein Wert an sich ist. Die Frucht der Freundschaft, nämlich das Voranschreiten auf der Suche nach Gott, ist Maß ihrer Qualität. 70

 

2. Das Freundschaftsideal des erwachsenen Augustin

a) Der Ursprung der christlichen Freundschaft

Augustins Denken ist theozentrisch. Für ihn liegt die Aufgabe der Schöpfung darin, zu Gott und zur Wahrheit zu führen. „Von diesem Standpunkt sind alle geschaffenen Dinge zu bewerten, auch der Mensch, auch der Freund." 71 Daher ist für Augustin neben zwei anderen Vorbedingungen für die Freundschaft, gleicher Stand und gegenseitige Liebe, vor allem Gott wichtig, denn von diesem geht die Freundschaft aus.

Augustin hielt am klassischen Grundsatz fest, daß Freundschaft nur unter Gleichrangigen möglich ist. Er schränkte dies aber sogleich dahingehend ein, daß man bei scheinbarer Ungleichheit oft durch die Freundschaft erst eine Gleichheit feststelle. 72 Dies läuft auf eine Außerkraftsetzung des Gleichheitsgrundsatzes hinaus. Wichtiger war für Augustin die gegenseitige Liebe zwischen den Freunden, denn „Liebe ist der eigentliche Grund für Freundschaft (...)"73, „und die Freundschaft hat ihren Bestand in der gegenseitigen Liebe." 74 Die Liebe sucht aber das Beste für die Seele des anderen, und dieses Beste ist Gott. Gott ist also Dreh- und Angelpunkt in der Freundschaft, wie sie Augustin versteht. Durch christliche Liebe wird die Freundschaft in Gott vollendet und mit Hoffnung erfüllt. Sie kann ihre natürlichen Grenzen übersteigen. 75 Es ist die „Schönheit oder Attraktivität wohlwollender Liebe, die die Freundschaft schafft (...) Es ist Gottes Gabe seiner Liebe zu uns, die die Basis der menschlichen Freundschaft und auch der Freundschaft mit Gott ist." 76

Für Augustin war daher eine Freundschaft ohne Gott unmöglich. 77 Dies bedeutet nicht bloß, daß eine Freundschaft ohne Gott nicht hält, eine solche käme erst gar nicht zustande. Denn Gott ist nicht nur die Mitte, sondern vor allem der Ausgangspunkt, von dem aus alle Freundschaft ihren Anfang nimmt. „[Augustin] betrachtet [Freundschaft] als munus diuinum wie Keuschheit, Geduld, Nächstenliebe und alle Tugenden. (...) Es ist Gott allein, der zwei Personen miteinander verbinden kann. Mit anderen Worten, Freundschaft ist außerhalb der Reichweite menschlicher Kontrolle. Man kann wünschen, der Freund eines anderen zu sein, der nach Vervollkommnung strebt, aber nur Gott kann die Vereinigung bewirken." 78 Aufgrund dieser Bedeutung Gottes wird auch klar, weshalb für Augustin der gemeinsame Glaube so wichtig war. Freundschaft war für Augustin „immer eine Angelegenheit dreier Personen und nicht einfach der beiden menschlichen Partner. Gott ist der unsichtbare Partner in jeder Beziehung, vorausgesetzt Er wird in Sich und im Freund geliebt (...)."79 Daraus folgte für Augustin, daß nur Christen zur Freundschaft fähig sind. 80 Augustin ging sogar davon aus, daß Nächstenliebe mit Gottes Hilfe die zur Freundschaft führt, die diese sonst nicht erreichen würden. 81 Konsequenterweise war neben einem außergewöhnlichen Charakter für Augustin auch Unterstützung des katholischen Glaubens praktisch ein Synonym für Freundschaft. 82 Eine weitere Grundlage der Freundschaft war für ihn die Tugend. 83

 

b) Die Ausgestaltung der christlichen Freundschaft

Die gegenseitige Liebe als Basis der Freundschaft bedarf gerade für Augustins neuplatonische Phase näherer Ausführung. Denn in diesem Lebensabschnitt war für ihn „der Nächste (...) sozusagen nur eine Sache" 84. Bedeutsam war für ihn zu dieser Zeit der Gegensatz uti — frui. Dieser gebot, daß man nur Gott um seiner selbst willen genießen bzw. lieben darf. Alle anderen Dinge und Geschöpfe waren zu gebrauchen zur Vervollkommnung des Genusses an Gott. Ansonsten hätte man etwas Vergängliches geliebt. Für die Ausgestaltung einer Freundschaft hieß das: Regelrechte Liebe zu einem anderen Menschen konnte es nicht geben. Es war nur eine „ordnende Liebe", die alles von Gott aus erfaßte, 85 möglich.

„Man sucht ja den Nächsten nicht an sich, sondern ordnet ihn nur ein. In der Liebe wird der Nächste nicht konkret erfaßt — als Freund (...) Er ist nur mein Nächster, weil er in dieselbe Relation zu Gott gestellt ist wie ich selbst. Nur wenn ich diese Relation zum Nächsten gelten lasse und dieser seinerseits auch sie erfaßt und mich so ‚liebt‘, dann ist die wahre Liebe gegeben und mit der Liebe auch die Freundschaft. (...) Auch die Freundschaft gehört zu den res humanae und gewinnt nur dann Sinn und Bestand, wenn sie auf das Ewige bezogen wird. (...) Denn auch die Freundesliebe, die den Freund sucht ‚propter se‘, ist eine verkehrte Liebe; das ‚propter se‘ kommt dem Geschöpfe nicht zu, (...) es hat nur seinen Wert ‚propter Deum‘. (...) Die Liebe, das Kernstück der Freundschaft, war nicht echt, darum war es auch die ganze Freundschaft nicht. (...) [So] überspringt der Mensch sich und den Nächsten, gebraucht sich und den Nächsten gewissermaßen nur als Stufe zu diesem höchsten Gute. (...) Daraus folgt, daß auch kein seelisches Verhältnis, kein Weg von Seele zu Seele offen ist. Damit fehlt der Freundschaft das Warme, das Bindende. Die Freundschaft ist kalt rationalistisch (...)"86

Dies änderte sich aber bald, als Augustin sich mehr dem katholischen Christentum näherte. Dann vertrat er eine eher paulinische Nächstenliebe87 und vermochte die Freundschaft als „Weg von Seele zu Seele" 88 zu begreifen. Er verstand den Freund als Person mit einem absoluten Wert an sich, der man vertraute, ein anderes Ich (womit er eine klassische Idee aufgriff). 89 Die Freunde sollen durch eine Liebe zueinander und zu Gott verbunden sein, die keinen Vorteil sucht, was der Freundschaft Stabilität verleihen wird. 90 Daraus resultierende Freuden seien, so Augustin, nur eine Erfrischung auf der Pilgerschaft zum Himmelreich. 91 Eine solche Freundschaft übersteht alle Stürme; alle Mißverständnisse sollten ausgeräumt werden, auch sollte man versuchen, andere zerstrittene Freundschaften zu heilen92; sollte sich jedoch ein Freund von Gott abwenden, so wäre die Freundschaft sofort zu beenden. 93 Es wäre daher nach Augustin besser, wenn ein Freund stirbt, als wenn die Freundschaft zerbricht. 94 Allerdings ist eine zerbrochene Freundschaft auch stets eine „grausame Tortur". 95

Wesentliche Elemente einer Freundschaft nach diesem augustinischen Verständnis sind Weitergabe von Wissen und Erfahrungen, Hilfe, Respekt, Liebe, Vertrauen und vor allem Wahrheit und Wertschätzung. 96 Da die Freundschaft das Wohl des anderen sucht, soll jeder in ihr den anderen nach Kräften zu fördern suchen und ihm im Streben nach dem Guten und der Wissenschaft helfen sowie seine Mühen übernehmen. 97 Die „Frucht des Bundes der Freunde soll gegenseitige innere Bereicherung" 98 sein, wobei „der andere erfaßt [wird], so wie er ist; man sieht nicht auf einzelne Eigenschaften und Gegebenheiten, sondern auf das einem [!] homogene Wesen." 99 In der Freundschaft kann der Mensch am besten erfaßt und in seinem Wesen erkannt werden. 100 Das führt zu einer weitgehenden Vertrautheit, die für Augustin allerdings auch ihre Grenzen hat (s. u.). Fehler des anderen werden großzügig übersehen, was nicht heißt, daß man diese nicht ansprechen darf bzw. soll (s. u.). Freundschaft soll den eigentlichen Wert der Person des anderen erkennen; dieser aber liegt in Gott. Der Freund wird daher als Geschöpf Gottes, als „Widerstrahl vom göttlichen Lichte" 101 erkannt. Diese Hinordnung auf Gott war jetzt anders geartet als in Augustins manichäischer Phase: Der Nächste sollte nicht mehr als Stufe zu Gott dienen, sondern die Freunde sollten sich miteinander vereinigen in Gott und einander vorantreiben auf dem Weg zu Gott. Dies festige die Freundschaft und sei auch wünschenswert im Hinblick auf die Vollendung nach dem Tode. War in der neuplatonischen Sichtweise der Nächste eine Sache gewesen, so war er nun ein Mitstreiter im Glauben. Im Freund erkannte Augustin Gott; das führt wieder zur erwähnten Bedingung von Freundschaft: ohne Gottesliebe keine Freundesliebe. 102

Da also die Freunde in ihrer Gottesliebe verbunden sind, war für Augustin ein Zusammensein der Freunde unerheblich. 103 Nach klassischer Ansicht war ein gemeinsames Leben unabdingbar; ansonsten würde die Freundschaft allmählich aufhören. Augustin dagegen meinte, durch die Verbindung in Gott sei der Geist des Freundes, das Objekt der Freundesliebe, im eigenen Geist immer präsent (worin wieder das Motiv von einer Seele in zwei Körpern anklingt). Daher seien Freunde nie wirklich getrennt. 104 Zusammensein sei überflüssig, viel wichtiger sei gegenseitige Wertschätzung. Augustin gab zwar einerseits zu, daß Freundschaft dennoch gewöhnlich stärker sei, wenn die Freunde beisammen sind105, aber andererseits hielt er Freundschaften zwischen Menschen, die einander nie sahen und sich nur z. B. aus ihren Schriften kannten, für möglich und pflegte auch solche Freundschaften106. Auch eine Trennung der Freunde durch den Tod bedeutete für Augustin kein Ende der Freundschaft. Selbst in diesem Falle lag nur eine vorübergehende Trennung vor; die Freundschaft würde im Himmel erneuert werden und enger als je zuvor sein107; überhaupt freute sich Augustin in gewisser Hinsicht für jeden Freund, der gestorben war, daß er am gemeinsamen Ziel, der Schau Gottes, angekommen war.

Zu einer Trennung konnte es insbesondere durch berufliche Gründe kommen. Bei geschäftlichen Verpflichtungen dürfe die „gegenseitige Geselligkeit (...) auf keinen Fall dazu führen diese zu vernachlässigen." 108 Sei eine Begegnung der Freunde nicht möglich, so stelle ein Briefwechsel eine vollwertige Alternative dar. 109 Doch selbst dieser sei einzuschränken oder gar einzustellen, falls er die Berufsausübung behindere. 110 Augustin war davon überzeugt, daß eine Freundschaft auch ohne jeglichen Kontakt andauert. Bei aller theoretischen Betonung der Unabhängigkeit von körperlicher Gegenwart, die er zum größten Teil praktisch lebte — so wollte er z. B., daß seine Freunde unabhängig von ihm sind111 und pflegte zwei Jahre lang keinen Kontakt zu seinem guten Freund Paulinus112, mit dem er ohnehin nur brieflich kommunizierte113 —, empfand Augustin dennoch Schmerz bei der Abwesenheit eines Freundes. 114 Und bei aller Unabhängigkeit seien zur Aufrechterhaltung einer Freundschaft gewisse gegenseitige Verpflichtungen einzuhalten115:

 

c) Die Pflichten der christlichen Freundschaft
(1) Liebe

Zu diesen Verpflichtungen oder Grundvollzügen, wie sie Geerlings nennt116, gehört zunächst die Liebe, denn diese ist auch Voraussetzung der Freundschaft; also muß sie aufrechterhalten werden. Die Liebe in der Freundschaft ist aber eine, die auf Gott hinzielt. 117 Diese „Gottesliebe in der Freundschaft [führt] zur vollen Freude und zum höchsten Glück. (...) So ist Freundschaft [für Augustin] ein Gut, das um seiner selbst willen (natürlich immer im Bezug auf Gott) gesucht werden darf." 118 Da „Freundschaft (...) der beste Weg ist zur Gottvereinigung" 119, stellt Augustin die Freundesliebe noch über die Mutterliebe. 120

 

(2) Vertrauen

Vertrauen war für Augustin eine absolute Notwendigkeit. „Eine einmal eingegangene Freundschaft darf nicht mehr geprüft, sondern nur noch vertrauensvoll bewahrt werden." 121 Für Augustin war es schlimmer, kein Vertrauen zu einem Freund zu haben, als später von diesem enttäuscht zu werden, wenn dieser sich als der Freundschaft unwürdig erwies. 122

 

(3) Offenheit

Offenheit und Wahrheit waren nicht weniger wichtig für Augustin. 123 Freunde sollten einander korrigieren und ihre Fehler gegenseitig ansprechen. Auch solle man selbst seine eigenen Fehler seinem Freund vor Augen führen, damit dieser kein falsches Bild von einem bekomme. 124 Tadel zeige nur, daß der Freund es gut mit einem meine125, denn niemand kenne einen so gut wie der Freund126. Jegliche Ermahnung müsse aber freundlich vorgebracht werden; es dürfe keine Gehässigkeit aufkommen. 127 Auch Lob dürfe nicht verschwiegen werden, doch müsse es so formuliert werden, daß der andere nicht eitel werde. 128 Der Gelobte müsse sich bemühen, des Lobes würdig zu sein. 129 Augustin selbst ließ sich nur ungern loben; er glaubte sich selbst zu loben, wenn er Lob empfing, selbst wenn es berechtigt war. 130

 

(4) Gebet

Die Notwendigkeit des Gebetes in der Freundschaft folgt schon aus ihrem Fundament Gott. Es hat einen dreifachen Nutzen: Zuvorderst bringt es die Freunde voran im Streben nach Vervollkommnung und dem Guten, dadurch bringt es beide näher zu Gott. 131 Sodann kann der Freund „im Beten das von Gott dem Freunde zu erflehen [suchen], was [die Liebe des Freundes] aus sich ihm nicht geben kann." 132 Zudem besteht durch das Gebet eine größere Wahrscheinlichkeit, daß Mahnworte zum Herzen des Freundes vordringen, die sonst ungehört verhallen. 133 Für Augustin war das Gebet somit ein vorzügliches Mittel zur Überhöhung der Freundschaft auf Gott hin.

 

d) Das Ziel der christlichen Freundschaft

Augustin glaubte, seine Talente nur dazu zu besitzen, um seine Freunde zu Gott führen zu können. 134 Daher sah er in der Freundschaft auch keinen Selbstzweck, sondern ein Mittel zur Heiligung. 135 Zu Gott sollten die Freunde einander führen, zum Urheber ihrer Verbindung und zum Ziel ihres je einzelnen Lebens. Zugleich war sich Augustin einer nicht transzendierbaren Grenze in jeder Beziehung bewußt. Er konnte sich auch seinen besten Freunden nicht ganz erklären136, war gleichsam immer ein wenig von ihnen getrennt, so eng die Freundschaft war137; trotz der von ihm eindringlich vertretenen Sorge um die Freunde meinte er, seine Wünsche nicht auf jene übertragen zu können, was wieder eine Grenze bedeutete138. Auf der Erde gebe es keine Freundschaft ohne Schwierigkeiten, Mißverständnisse und Leid:

„Vernunft: Du wagst es also, von deinem Freund, mit dem du dich wirklich eng verbunden fühlst, zu sagen, er sei dir unbekannt?

Augustinus: Weshalb sollte ich es nicht wagen? In der Freundschaft halte ich nämlich jenes Gesetz für das richtigste, das vorschreibt, man solle den Freund weder weniger noch mehr als sich selbst lieben. Wie kann es daher, wenn ich mich doch selber noch nicht kenne, für den anderen eine Schande sein, wenn ich von ihm sage, ich kenne ihn nicht, zumal er, glaube ich, nicht einmal sich selber kennt." 139

Deswegen freute sich Augustin auf den Himmel, denn dort seien all diese Probleme überwunden, dort verliere man keinen Freund mehr, und dort seien Freundschaften viel enger als hier. 140 Viele seiner besten Freunde starben vor Augustin, was diesen jedoch nicht betrübte. Im Gegenteil war er davon überzeugt, daß seine Freunde in so umso mehr lieben konnten. 141 Man habe dem Freunde das Glück der Seligkeit zu gönnen, der nach seinem Tode endlich allen Anfechtungen der Sünde entronnen sei. 142

Als Definition der Freundschaft in diesem zweiten Abschnitt von Augustins Leben kann gelten: Freundschaft ist eine Einheit zweier Seelen mit gleichen Anlagen, getragen vom gegenseitigen Wunsch, einander Gutes zu tun143, mit dem gemeinsamen Ziel Gott144, da dieser auch der gemeinsame Ursprung ist. Oder, um die einzige regelrechte Freundschaftsdefinition zu verwenden, die sich bei Augustin findet, und die eine rein christliche ist (und die bemerkenswerterweise negativ formuliert ist): „[Es gibt keine wahre Freundschaft], solange Du sie nicht zwischen Menschen, die sich gut sind, mit jener Liebe festigst, die in unserem Herzen durch den Heiligen Geist ausgebreitet wird, der uns gegeben ist." 145

 

3. Das Freundschaftsideal im Brief 258

Augustins Brief 258, der sich im Anhang in Übersetzung findet (eine weitere Übersetzung ist im Literaturverzeichnis angegeben), läßt sich nicht exakt datieren. Aufgrund seines Inhaltes kann geschlossen werden, daß er jedenfalls nach Augustins Taufe, wahrscheinlich kurz nach seiner Rückkehr nach Afrika und mit großer Sicherheit noch vor der Bischofsweihe geschrieben wurde. 146 „Es ist ein Glück, daß [Augustins] Brief 258 erhalten ist, da er die zentrale Stellungname seiner reifen Ansichten bezüglich der christlichen Freundschaft, ihrer Beziehung zum klassischen Ideal und ihrer Atmosphäre der Nächstenliebe darstellt." 147 Hier ist leider keine ausführliche Erarbeitung der Aussagen des Briefes aus dem Text möglich; im Rahmen der vorliegenden Ausführungen muß eine Zusammenfassung genügen.

Der Brief 258 ist ein sehr gutes Beispiel für die schon erarbeitete Voraussetzung der Freundschaft nach augustinischem Verständnis. „So kommt es, daß zwischen den Freunden, zwischen denen es keine Übereinstimmung in göttlichen Dingen gibt, auch die in irdischen Dingen nicht vollkommen und wahr sein kann." 148 Dieser Gedanke wird im Brief aber noch wesentlich ausgebaut. Dazu zitiert Augustin zunächst Ciceros Laelius, wobei er bewußt die bekannte Reihenfolge umstellt, da für ihn die „göttlichen Dinge" als Ziel des Menschen am Schluß kommen müssen. 149 Dann verbindet er dieses Zitat zur Interpretation mit dem Liebesgebot der Bibel und verknüpft so antikes mit christlichem Gedankengut150:

„Nun besteht nämlich zwischen uns eine ‚Übereinstimmung in irdischen und göttlichen Dingen mit Wohlwollen und Liebe‘ in Christus Jesus, unserem Herrn, unserem wahrhaftigen Frieden. Dieser faßte mit zwei Weisungen alle göttlichen Verkündigungen zusammen, indem er sagte: ‚Du sollst den Herrn, Deinen Gott, aus Deinem ganzen Herzen und aus Deiner ganzen Seele und aus Deinem ganzen Verstand lieben‘ und: ‚Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst (...)‘ Auf jenem ersten [Gebot] beruht die Übereinstimmung mit Wohlwollen und Liebe in göttlichen, auf diesem zweiten die in irdischen Dingen." 151

Der Brief ist daher mehr als eine Zusammenfassung von Augustins Freundschaftsideal in dieser Lebensphase. Er ist ebenso ein Zeugnis der Überführung antiker — und zwar römischer von Cicero und griechischer vom Neuplatonismus — Gedanken ins Christentum. Zudem zeigt er auch Augustins Rigorosität:

„In den göttlichen Dingen dagegen, von denen mir zu jener Zeit keine Wahrheit aufleuchtete — also gewiß im bedeutenderen Teil jener Definition —, war es um unsere Freundschaft schlecht bestellt; die ‚Übereinstimmung‘ war nämlich eben nur ‚in irdischen‘ und nicht auch noch ‚in göttlichen Dingen‘ eine mit so sehr ‚Wohlwollen und Liebe‘."152

Daher war die Freundschaft zwischen Martianus und Augustin nicht echt. Augustin spürte selbst die eiserne Härte seiner Haltung. 153 Diese ist noch vom Neuplatonismus beeinflußt. Augustin läßt hier den Freund nur zu in bezug auf Gott, von dem aus nur alle irdischen Dinge richtig eingeschätzt werden können:

„Tatsächlich gibt es auch in irdischen Dingen zwischen uns keine Meinungsverschiedenheit, da wir diese im Lichte der göttlichen Dinge einschätzen, so daß wir diesen nicht mehr zugestehen, als ihr Wesen es zu Recht fordert; wir verachten diese Dinge aber auch nicht in unbilliger Geringschätzung, da wir dadurch dem Schöpfer dieser Dinge, dem Herrn des Himmels und der Erde, Unrecht zufügen würden." 154

Bloß so kann die ewige Ordnung der Welt gewahrt bleiben. Wenn dies gegeben ist, was nach Martianus’ Taufe der Fall ist, nimmt Augustin den anderen in Freuden an. Zwar findet sich im ganzen Brief kein expliziter Glückwunsch zum Eintritt ins Katechumenat155, aber Augustin zeigt sich insgesamt sehr erfreut über die Neubelebung der Freundschaft und natürlich darüber, daß ein Mitmensch den Weg zum Christentum gefunden hat. Die Einhaltung beider biblischen Gebote bietet für ihn die Gewähr einer dauerhaften Freundschaft.

 

4. Die Beeinflussung Augustins durch das Freundschaftsverständnis Ciceros

Augustin zeigt sich in seinem Freundschaftsverständnis in mehreren Punkten durch Cicero beeinflußt. Dies wird bei der Lektüre des Briefes 258 besonders deutlich, wo Augustin mit nachdrücklicher Zustimmung aus Ciceros Laelius zitiert. 156 Cicero und Augustin hielten beide Wohlwollen und Liebe für eine bedeutende Basis der Freundschaft. Wohlwollen und Liebe schließen einen weiteren Personenkreis ein, aus dem sich dann durch ein Hinzutreten einer Gegenseitigkeit Freundschaften herausbilden. 157 Bei Augustin heißt dieses Wohlwollen brüderliche Nächstenliebe. Auch Tugend ist Voraussetzung für Freundschaft, die daher nur unter Guten entstehen kann. 158 Für Augustin tritt durch seinen christlichen Horizont als weitere und vorrangige Ursache von Freundschaft Gott hinzu. Freundschaft ist für beide Autoren der Weisheit unterworfen und darf um ihrer selbst willen angestrebt werden (was Augustin allerdings erst in späteren Jahren zugibt). 159 Eine entstandene Freundschaft ist selbstlos. 160 Sie wird gefördert durch gleiche Anlagen und Interessen161 und getragen vom gegenseitigen guten Wünschen162, Treue163, Wahrhaftigkeit und Freimut164. Ihre Feinde sind Mißtrauen und Stolz. 165 In einer Freundschaft hat sich der Überlegene dem Unterlegenen anzugleichen. 166 Daraus kann dann eine Vertrautheit resultieren, die größer als die unter Verwandten ist. Dennoch bleibt Raum für Respekt und Zurückhaltung. 167 All dies sind Ansichten, die sich oben schon bei Augustin gezeigt haben und in denen eine Parallele zu Cicero deutlich wird. Hier muß eine solche Zusammenschau der Ansichten beider Denker genügen, da der Raum für eine Herleitung der Parallelstellen aus Ciceros Werk nicht ausreicht.

 

III. Freundschaft und Nächstenliebe beim späten Augustin

Nach Augustins Definition (s. o.) ist der Heilige Geist Ursache der Freundschaft; dies ist eine Sichtweise, die für Augustin immer bedeutender wurde. „Mit dieser Definition riskiert Augustin jedoch, christliche Freundschaft schlicht mit brüderlicher Nächstenliebe gleichzusetzen. Und in vielerlei Hinsicht verharrt er bei diesem Verständnis." 168 Denn für Augustin war es nur ein kleiner Schritt von dieser Definition zu einem neuen Freundschaftsverständnis. Sein Interesse wandte sich in seinen späten Jahren immer mehr der Gemeinschaft der Kirche zu. 169 Innerhalb dieser schuldet man allen Liebe — zumal für Augustin Liebe höchste Bischofspflicht war. Augustin hielt dies konsequent durch und liebte auch Schismatiker; er verurteilte nur die Sache. 170 Und da die Liebe Ursache der Freundschaft ist, schuldet man auch allen Freundschaft:

„Auch sind der Freundschaft nicht enge Grenzen zu ziehen; sie umfaßt vielmehr alle, denen man Liebe und Zuneigung schuldet, wenn man auch zu dem einen mehr, zu dem anderen weniger sich hingezogen fühlt; sie reicht sogar bis zu den Feinden, da uns befohlen ist, auch für sie zu beten. So gibt es niemanden im Menschengeschlechte, dem man nicht Liebe, wenn auch nicht als wechselseitige Zuneigung, so doch wegen der Gemeinsamkeit der Natur schuldig wäre." 171

Augustin hoffte z. B. sogar, durch Freundschaft Abtrünnige zurückzugewinnen. 172 „Freundschaft heißt nun abgekürzt Nächstenliebe." 173 Alle Christen, die in Gott vereinigt sind, sind Freunde. 174 Von einer universellen Anwendung der brüderlichen Nächstenliebe versprach sich Augustin, die der Freundschaft gesetzten Grenzen (s.o.) zu überwinden. 175 Brüderliche Nächstenliebe hatte für ihn daher in späterer Zeit Vorrang vor Freundschaft176; falls man anderen helfen muß, so Augustin, müsse eine Freundschaft zurückstehen, da der Freund der Hilfe nicht so sehr bedürfe wie der andere177 (dies ohne eine Begründung; vielleicht, weil der Freund sich in Gott befindet und dieser ohnehin für ihn sorgt).

Auf diese Weise entwickelte sich allmählich ein neues Freundschaftsideal Augustins. Seine Vorstellung war nun die einer Freundschaft unter allen (christlichen) Menschen. 178 Von einer solchen Einheit unter den Menschen erhoffte sich Augustin eine bessere Gesundheit des Corpus Christi mysticum. Das hieß für ihn eine bessere Verfassung der Kirche, bessere Verehrung Gottes, besseres Vorankommen auf dem gemeinsamen Weg zu Gott, eine Heiligung aller menschlichen Beziehungen. Für sich erhoffte er eine Annäherung an Gott und wollte der Kirche besser dienen, auch in individuellen Freundschaften. 179 Daher war Augustin gegen Lebensende immer auf der Suche nach neuen Mitstreitern für Gott, nach neuen Freunden. Damit hatte sich ein zweiter Wandel vollzogen180 und Augustin war mit seinem Freundschaftsverständnis an einem Punkt angekommen, der alle gewöhnlichen Vorstellungen von Freundschaft — und auch seine eigene bisherige — weit übersteigt.

Allerdings blieben Einzelfreundschaften innerhalb des großen Rahmens brüderlicher Nächstenliebe oder Freundschaft weiterhin bestehen. In diesem Punkt ist mit van Bavel181, Lienhard182 und McNamara183 eindeutig Geerlings zu widersprechen, der meint, „in dieser späten Lebensphase [finden wir] einen verhärteten Augustin, der sich offensichtlich der Annehmlichkeiten und Freuden der früheren Freundschaften nicht mehr zu erinnern weiß." 184 Warum sollte dies zutreffen? Das würde bedeuten, daß Augustin seine Einzelfreundschaften aufgegeben hätte (und zwar auch die mit bekehrten Freunden); daß das nicht zutrifft, erscheint logisch, zumal Augustin selbst schreibt:

„[Liebe schuldet man allen (s. o.).] Aber an jenen haben wir mit Recht große Freude, die uns in heiliger und keuscher Weise entgegenlieben. Besitzt man solche Freunde, so soll man beten, daß man sie behalte; besitzt man sie nicht, daß man sie erhalte." 185

Eine Definition der Freundschaften des späten Augustin ist schwierig. Die Einzelfreundschaften faßte er sicher nicht anders auf als zuvor. Charakteristischer für ihn ist aber in dieser Periode die universale Überhöhung der Freundschaft hin auf die ganze Menschheit, etwas, das sich nicht in herkömmlichen Kategorien von Freundschaft fassen läßt und in dem der Mystiker Augustin aufscheint.

 

C. Fazit: Das Freundschaftsideal Augustins

Was also ist das Freundschaftsverständnis Augustins? Eine Frage, die sich ohne weiteres nicht beantworten läßt. Dazu ist es zu verschieden in unterschiedlichen Lebensabschnitten; das Bleibende sind der Wandel und ein ständiges unstillbares Zuneigungsbedürfnis186. Drei Perioden wurden hier unterschieden. 187 Jede hat ihre eigenen Charakteristika bezüglich der Freundschaft. Die mittlere Periode ist dabei m. E. die bedeutendste, da sie ein umfassendes Freundschaftsverständnis zeigt; zuvor war Augustin auch nach eigener Auffassung noch nicht zum wahren Verständnis von Freundschaft vorgestoßen, danach entfernte er sich eher wieder von einer Freundschaft im engeren Sinn. Vielleicht ist dies aber zu sehr in allgemein üblichen Kategorien von Freundschaft gedacht. Nicht umsonst wurde in der vorliegenden Abhandlung darauf verzichtet, Augustins Vorstellungen an einer anderen Freundschaftskonzeption zu messen. Zu eigenständig sind seine Gedanken gerade am Ende seines Lebens. Was bleibt, ist sein großes Verdienst um die Freundschaft, Antikes und Christliches miteinander verschmolzen und so „die erste wahrhaft christliche Freundschaftskonzeption" 188 entwickelt zu haben. Verschiedenes erhoffte er sich von Freundschaft, doch war es nie etwas Weltliches, sondern lief immer auf eine Annäherung an Gott, auf eine Freundschaft in Gott und geradezu mit Gott hinaus. Seine Freundesliebe war stets selbstlos.

Augustin, der immer von vielen Freunden umgeben war, starb allein. Seine Freunde wußte er dennoch umso näher bei sich: Er liebte sie in Gott189 und war fest davon überzeugt, daß auch sie, die ihm in den Himmel vorausgegangen waren, ihn in Gott liebten.

 

Augustinus: Brief 258190

Augustinus grüßt im Herrn den mit Recht [in die Gemeinschaft der Gläubigen] aufzunehmenden Herrn und in Christus sehr geliebten und vermißten Bruder Marcianus!

1. Ich habe mich selbst bei vielen meiner Beschäftigungen davor gedrückt oder besser entzogen und auf gewisse Weise davongestohlen, Dir sehr altem Freund zu schreiben, den ich doch nicht hatte, während ich nicht an Christus glaubte. Du weißt freilich, wie „Tullius, der", wie einer behauptet, „größte Schriftsteller der lateinischen Sprache" 191 die Freundschaft näher bestimmte. Er sagte nämlich und zwar sehr mit Recht: „Freundschaft ist Übereinstimmung in irdischen und göttlichen Dingen mit Wohlwollen und Liebe." 192 Du aber, mein Liebster, verstandest Dich mit mir einst in menschlichen Dingen, als ich den Lebenswandel der Masse genießen wollte, und bestärktest mich, die Dinge zu erstreben, die mich [heute] reuen, ja blähtest sogar ganz besonders mit meinen übrigen damaligen Genossen die Segel meines Ehrgeizes auf mit dem Wind Deiner Komplimente. In den göttlichen Dingen dagegen, von denen mir zu jener Zeit keine Wahrheit aufleuchtete — also gewiß im bedeutenderen Teil jener Definition —, war es um unsere Freundschaft schlecht bestellt; die „Übereinstimmung" war nämlich eben nur „in irdischen" und nicht auch noch „in göttlichen Dingen" eine mit so sehr „Wohlwollen und Liebe".

2. Und nachdem ich aufgehört hatte, jene Dinge zu begehren, wolltest Du wenigstens in beständigem Wohlwollen, daß ich im irdischen Leben wohlbehalten und in dem Gedeihen der Dinge erfolgreich sei, das die Menschen zu wünschen pflegen. Und schon war so die wohlwollende und liebe Übereinstimmung in irdischen Dingen mit mir für Dich etwas Bedeutendes. Wie sehr ich mich nun also über Dich freue, mit welchen Worten soll ich erklären, seit wann ich den, den ich seit langem auf welche Weise auch immer als Freund hatte, nun vollends als wahren Freund habe? Es kam nämlich die Übereinstimmung in göttlichen Dingen hinzu, da Du ja, der Du das zeitliche Leben mit mir mit einem gewissen äußerst angenehmen Wohlwollen geführt hast, nun anfingst, mit mir in der Hoffnung auf ein ewiges Leben zusammenzusein. Tatsächlich gibt es auch in irdischen Dingen zwischen uns keine Meinungsverschiedenheit, da wir diese im Lichte der göttlichen Dinge einschätzen, so daß wir diesen nicht mehr zugestehen, als ihr Wesen es zu Recht fordert; wir verachten diese Dinge aber auch nicht in unbilliger Geringschätzung, da wir dadurch dem Schöpfer dieser Dinge, dem Herrn des Himmels und der Erde, Unrecht zufügen würden. So kommt es, daß zwischen den Freunden, zwischen denen es keine Übereinstimmung in göttlichen Dingen gibt, auch die in irdischen Dingen nicht vollkommen und wahr sein kann. Der, der die göttlichen Dinge verachtet, schätzt die irdischen anders ein, als es sich gehört, und wer den nicht schätzt, der den Menschen geschaffen hat, weiß den Menschen nicht richtig einzuschätzen. Daher sage ich nicht: „Nun bist Du für mich ein vollkommenerer Freund, der Du zum Teil einer warst", sondern, was schon die Vernunft einem sagt, Du warst auch nicht zum Teil [mein Freund], weil Du in irdischen Dingen mit mir keine wahre Freundschaft hieltest. In göttlichen Dingen freilich, durch die die irdischen richtig eingeschätzt werden, warst Du noch nicht mein Gefährte, sei es, als ich selbst mich nicht in ihnen [= im Zustand ihrer Erkenntnis] befand, sei es, als ich später begann, so gut es ging, in Dingen zu Einsicht zu gelangen, von denen Du bei weitem zurückschrecktest.

3. Ich will aber nicht, daß Du zürnst und daß es Dir ungereimt erscheint, daß Du zu jener Zeit, als ich in der Eitelkeit dieser Welt leidenschaftlich erregt war, wenn Du mich auch noch so sehr zu lieben schienst, noch nicht mein Freund warst, da ich mir selbst auch nicht Freund war, sondern eher Feind. Denn ich liebte die Ungerechtigkeit, und es ist ein wahrer, weil göttlicher, Satz, in dem in der Heiligen Schrift geschrieben steht: „Wer aber Ungerechtigkeit liebt, haßt seine Seele." 193 Weil ich also meine Seele haßte, auf welche Weise konnte ich einen wahren Freund haben, der mir die Dinge wünschte, in denen ich mir selbst Feind war? „Als tatsächlich die Freundlichkeit und Nachsichtigkeit unseres Retters für mich zu leuchten begannen, nicht gemäß meinen Verdiensten, sondern gemäß dessen Erbarmen" 194, auf welche Weise konntest Du da, davon fernstehend, mein Freund sein, der Du ganz und gar nicht wußtest, durch was ich glücklich sein konnte, und mich nicht in dem liebtest, in dem ich praktisch mein eigener Freund geworden war?

4. Dank sei daher dem Herrn, daß er endlich die Gnade gewährte, Dich mir zum Freund zu machen. Nun besteht nämlich zwischen uns eine „Übereinstimmung in irdischen und göttlichen Dingen mit Wohlwollen und Liebe" 195 in Christus Jesus, unserem Herrn, unserem wahrhaftigen Frieden. Dieser faßte mit zwei Weisungen alle göttlichen Verkündigungen zusammen, indem er sagte: „Du sollst den Herrn, Deinen Gott, aus Deinem ganzen Herzen und aus Deiner ganzen Seele und aus Deinem ganzen Verstand lieben" und: „Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst; an diesen beiden Weisungen hängt das ganze Gesetz und die Propheten." 196 Auf jenem ersten [Gebot] beruht die Übereinstimmung mit Wohlwollen und Liebe in göttlichen, auf diesem zweiten die in irdischen Dingen. Wenn Du mit mir sehr beharrlich an diesen beiden [Geboten] festhältst, wird unsere Freundschaft wahrhaftig und ewig sein und wird uns nicht nur gegenseitig verbinden, sondern auch mit dem Herrn selbst.

5. Damit das geschieht, appelliere ich an Deinen Ernst und Deine Klugheit, daß Du auch die Sakramente der Gläubigen empfängst; es gehört sich nämlich für das Alter und harmoniert, soviel ich glaube, mit Deinem Lebenswandel. Erinnere Dich daran, was Du mir bei meinem Aufbruch von Terenz gesagt hast, was freilich aus einer Komödie stammt, aber, wenn man den Vers noch einmal überdenkt, dennoch sehr passend und nützlich ist:

„Nun bringt der heutige Tag ein anderes Leben herbei, er fordert einen anderen Lebenswandel." 197

Wenn Du damit die Wahrheit gesprochen hast, woran ich bei Dir keinen Grund habe zu zweifeln, lebst Du in der Tat schon so, daß Du würdig bist, in der Heil bringenden Taufe die Vergebung der vergangenen Sünden zu erhalten. Denn außer Christus gibt es niemanden, dem die Menschen sagen könnten:

„Bleiben von unseren Sünden noch Spuren - wenn Du uns dann führest,
Dann wird die ewige Tilgung die Erde von Schrecken befreien." 198

Vergil gestand sich ein, daß er dies aus einem Lied der Sibylle von Kyme übertragen hatte, da ja vielleicht auch jene Seherin etwas vom einzigen Retter im Geist gehört hatte, was sie kundtun mußte. Dies, sei es wenig, sei es vielleicht viel, schrieb ich Dir jedenfalls sehr beschäftigt, mit Recht [in die Gemeinschaft der Gläubigen] aufzunehmender Herr und in Christus sehr geliebter und vermißter Bruder. Ich bin gespannt darauf, Deine Antwort zu erhalten und möchte erfahren, ob Du dem Namen nach [schon] unter die Mitstreiter [im Glauben] aufgenommen wurdest oder jeden Augenblick aufgenommen wirst. Gott der Herr, an den Du glaubst, behüte Dich hier und auch in der zukünftigen Welt, mit Recht [in die Gemeinschaft der Gläubigen] aufzunehmender Herr und in Christus sehr geliebter und vermißter Bruder.

 

Literaturverzeichnis

A. Quellen

Augustinus, Aurelius: Bekenntnisse. Übertragen von Carl Johann Perl. Paderborn 51963.

Ders.: Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus ausgewählte Briefe, aus dem Lateinischen unter Benutzung der Übersetzung von Kranzfelder übersetzt von Alfred Hofmann. 2. Band (Buch III-IV) (= BKV zweite Reihe Band 30). Kempten, München 1917.

Ders.: Des heiligen Aurelius Augustinus, Bischof von Hippo, ausgewählte Briefe übersetzt von Theodor Kranzfelder. Zweiter Theil (= BKV erste Reihe Band 13). Kempten 1879.

Ders.: Selbstgespräche über Gott und die Unsterblichkeit der Seele. Lateinisch und Deutsch. Gestaltung des lateinischen Textes von Harald Fuchs. Einführung, Übertragung und Erläuterungen von Hanspeter Müller. Zürich 1954.

 

B. Sekundärliteratur

Bavel, Tarcisius J. van: The influence of Cicero’s ideal of friendship on Augustine, in: Boeft, Jan den; Oort, Johannes von: Augustiniana Traiectina : Communications présentées au Colloque International d’Utrecht 13 - 14 novembre 1986. Paris 1987. S. 59 - 72.

Cassidy, Eoin: Friendship and Beauty in Augustine, in: O’Rourke, Fran (Hrsg.): At the heart of the real : Philosophical essays in honour of the most reverend Desmond Connell, archbishop of Dublin. Dublin 1992 [Festschrift]. S. 51 - 66.

Geerlings, Wilhelm: Das Freundschaftsideal Augustins, in: Theologische Quartalschrift 161 (1981), S. 265 - 274.

Lienhard, Joseph T.: Friendship in Paulinus of Nola and Augustine, in: Augustiniana 40 (1990), S. 279 - 296.

McEvoy, James: Anima una et cor unum : Friendship and Spiritual Unity in Augustine, in: Récherches de Théologie Ancienne et Médiévale 53 (1986), S. 40 - 92.

McNamara, Marie Antonas: Friendship in Saint Augustine (= Studia Friburgensia, Neue Serie, Band 20). Freiburg / Schweiz 1958 [Dissertation].

Nolte, Venantius: Augustins Freundschaftsideal in seinen Briefen : Unter Hereinbeziehung seiner Jugendfreundschaften gemäß den Philosophischen Schriften und den Confessionen (= Cassiciacum Band VI). Würzburg 1939 [Dissertation].