Die "Gefährdung der Ahnfrau"

Stefan Ihli

 

Online-Version: 1998 - Alle Rechte vorbehalten.

 

 

Inhalt

A. Einleitung

I. Synopse Gen 12, 10-20; 20; 26, 1-11

II. Zu Thema, Stand der Forschung und Vorgehensweise

B. Hauptteil

I. Exegese von Gen 20

1. Textkritik

2. Literarkritik

a) Anfang und Ende der Texteinheit

b) Einheitlichkeit der Texteinheit

(1) Wiederholungen

(2) Spannungen

(3) Folgerungen

3. Sprachliche Analyse

4. Form- und Gattungskritik

5. Motiv- und Traditionskritik

6. Überlieferungs-, Kompositions- und Redaktionskritik, Zeit- und Verfasserfrage

7. Einzelauslegung und zusammenfassende Exegese

8. Theologische Kritik

II. Vergleich von Gen 20 mit den beiden Parallelstellen

1. Auffallende Unterschiede zu Gen 20 in ...

a) ... Gen 12, 10 - 20

b) ... Gen 26, 1-11

2. Zeitliches Verhältnis und Beeinflussung der Parallelstellen untereinander. Überlieferungs-, Redaktions- und Kompositionskritik

C. Schluß

Literaturverzeichnis

 

 

A. Einleitung

I. Synopse Gen 12, 10-20; 20; 26, 1-11

Gen 12, 10-20 (Text nach C. Westermann, S. 186f.)

Gen 20 (eigene Übersetzung)

Gen 26, 1-11 (Text nach C. Westermann, S. 512f.)

10 Es kam eine Hungersnot ins Land. Da ging Abraham nach Ägypten hinab, um dort als Fremdling zu leben; denn schwer lag die Hungersnot auf dem Land.

1 Und von da brach Abraham auf ins Land des Südens [in den Negeb], und er ließ sich nieder zwischen Kadesch und zwischen Schur. Und er war Schutzbürger in Gerar.

1 Es kam eine Hungersnot über das Land außer der früheren, die zur Zeit Abrahams gewesen war, da zog Isaak nach Gerar zu Abimelek, dem König der Philister.

   

2 Und Jahwe erschien ihm und sprach: Zieh nicht nach Ägypten hinab, bleibe in dem Land, das ich dir nennen werde!

   

3 Bleibe als Fremdling in diesem Land; ich will mit dir sein und dich segnen, denn dir und deinen Nachkommen will ich alle diese Länder geben und so den Schwur, den ich deinem Vater Abraham geschworen habe, bestätigen.

   

4 Und ich will deinen Samen so zahlreich machen wie die Sterne des Himmels. Und ich will deinem Samen alle diese Länder geben, und in deinem Namen sollen sich segnen alle Völker der Erde.

   

5 Dafür, daß Abraham auf mein Wort gehört und bewahrte, was ich ihn bewahren hieß: meine Gebote, Bestimmungen und Gesetze.

   

6 Und Isaak blieb in Gerar.

11 Als er der Grenze nach Ägypten nahekam, sagte er zu Sara, seiner Frau: Siehe, ich weiß, daß du eine schöne Frau bist.

   

12 Wenn dich die Ägypter sehen werden, werden sie sagen: das ist seine Frau! Dann werden sie mich töten, dich aber leben lassen.

   

13 Sag doch, du seist meine Schwester, damit es mir gut gehe deinetwegen und ich am Leben bleibe um deinetwillen!

   

14 Und als Abraham nach Ägypten kam, da sahen die Ägypter, daß die Frau sehr schön war.

   

15 Dann sahen sie die Höflinge des Pharao und rühmten sie vor Pharao, und die Frau wurde in den Palast des Pharao gebracht.

2 Und Abraham sagte über Sara, seine Frau: "Sie [ist] meine Schwester." Und es schickte Abimelech, [der] König [von] Gerar, [nach ihr,] und er nahm Sarah [zu sich].

7 Als nun die Männer des Ortes nach seiner Frau fragten, da sagte er: Sie ist meine Schwester; denn er fürchtete sich zu sagen: Sie ist meine Frau; sonst (dachte er) könnten mich die Männer des Ortes umbringen wegen Rebekka, denn sie ist sehr schön.

   

8 Als er nun längere Zeit dort war, da blickte Abimelek, der König der Philister, zum Fenster hinaus und sah Isaak mit seiner Frau Rebekka kosen.

16 Abraham aber ging es gut um ihretwillen: er erhielt Schafe und Rinder und Esel und Knechte und Mägde und Eselinnen und Kamele.

   

17 Da schlug Jahwe den Pharao mit schweren Plagen [und sein Haus] Saras wegen, der Frau Abrahams.

3 Und Gott ging hinein zu Abimelech im Traum der Nacht, und er sagte zu ihm: "Sieh dich tot wegen der Frau, die du genommen hast und die einem Bräutigam gehört."

 
 

4 Und Abimelech hatte sich ihr [noch] nicht genähert, und er sagte: "Mein Herr! Wirst du auch ein gerechtes Volk töten?

 
 

5 Hat nicht er zu mir gesagt: ,Sie [ist] meine Schwester.‘ und sie, auch sie gesagt: ,Er [ist] mein Bruder.‘? In der Unschuld meines Herzens und in der Reinheit meiner Hände habe ich dies getan."

 
 

6 Und Gott sagte zu ihm im Traum: "Auch ich weiß, daß du dies in der Unschuld deines Herzens getan hast, und auch ich habe dich daran gehindert, gegen mich zu sündigen; daher habe ich sie dir nicht gegeben, um sie geschlechtlich zu berühren.

 
 

7 Und jetzt bringe die Frau des Mannes zurück, denn er [ist] ein Prophet, und er wird für dich Fürbitte einlegen, und lebe! Aber wenn du [sie] nicht zurückgibst, wisse, daß du gewiß getötet wirst und alle, die bei dir sind."

 
 

8 Und Abimelech machte sich früh am Morgen auf und rief alle seine Diener; und er redete alle diese Worte in ihre Ohren, und die Männer fürchteten sich sehr.

 

18 Der Pharao aber ließ Abraham rufen und sagte: Was hast du mir da angetan! Warum hast du mir nicht kundgetan, daß sie deine Frau ist!

9 Und Abimelech rief Abraham und sagte zu ihm: "Was hast du uns angetan, und was habe ich gegen dich gesündigt, daß du über mich und über mein Königreich große Sünde bringst? Taten, die nicht getan werden dürfen, hast du gegen mich getan."

9 Da ließ Abimelek Isaak rufen und sagte: Ach, sie ist ja deine Frau! Wie konntest du sagen: Sie ist meine Schwester! Und Isaak sagte zu ihm: Ich dachte eben, ich müßte ihretwegen sterben!

19 Warum hast du gesagt: sie ist meine Schwester, so daß ich sie mir zur Frau nahm! Und nun: da hast du deine Frau! Nimm sie und geh!

10 Und Abimelech sagte zu Abraham: "Was hast du gesehen, daß du diese Sache gemacht hast?"

10 Da erwiderte Abimelek: Was hast du uns da angetan! Wie leicht hätte einer vom Volk mit deiner Frau schlafen können, und du hättest dann Schuld über uns gebracht.

 

11 Und Abraham sagte: "Weil ich [mir] sagte: ,Gewiß gibt es in diesem Ort keine Furcht vor Gott, und sie werden mich töten wegen der Sache meiner Frau.‘

 
 

12 Und auch in Wahrheit [ist sie] meine Schwester, Tochter meines Vaters [ist] sie, nur nicht Tochter meiner Mutter, und sie wurde mir zur Frau.

 
 

13 Und es geschah, als mich Gott irreführte weg vom Haus meines Vaters, da sagte ich zu ihr: ,Dies [ist] deine Gunst, die du mir tun sollst: Zu allen im Ort, in den wir kommen werden, sage über mich: "Er [ist] mein Bruder."‘"

 
 

14 Und Abimelech nahm Kleinvieh und Rinder und Knechte und Mägde und gab [sie] Abraham, und er brachte ihm Sara, seine Frau, zurück.

 

20 Und der Pharao beorderte für ihn eine Eskorte und entließ ihn und seine Frau mit all seiner Habe.

15 Und Abimelech sagte: "Siehe, mein Land [liegt] vor dir, da, wo es in deinen Augen gut ist, lasse dich nieder!"

11 Darauf gebot Abimelek dem ganzen Volk: Wer diesen Mann oder seine Frau anrührt, ist des Todes.

 

16 Und zu Sara sagte er: "Siehe, ich habe deinem Bruder tausend [Stücke] Silber gegeben. Siehe, sie sollen eine Bedeckung der Augen [ein Sühngeschenk] sein gegenüber allen, die bei dir sind und gegenüber allen, die redlich sind."

 
 

17 Und Abraham legte Fürbitte ein bei Gott, und Gott heilte Abimelech und seine Frau und seine Dienerinnen, so daß sie [wieder] gebaren.

 
 

18 Denn der Herr hatte dem Hause Abimelechs jeden Mutterleib gründlich verschlossen wegen der Sache Saras, der Frau Abrahams.

 

 

 

II. Zu Thema, Stand der Forschung und Vorgehensweise

Die "Gefährdung der Ahnfrau" ist eine Erzählung, die in der Genesis dreimal vorkommt (Gen 12, 10-20; 20; 26, 1-11) und die deshalb schon bei einer nur flüchtigen Lektüre des Textes als Besonderheit auffällt. Da sich dabei gut das Verhältnis zwischen verschiedenen Textstellen und -schichten beobachten läßt, wurden die drei "einen besonderen Glücksfall"1 darstellenden Versionen konsequenterweise zu "Urbastionen der neuzeitlichen Pentateuchkritik"2.

Entsprechend reichhaltig ist die zum Thema erschienene Literatur. Neben den üblichen Kommentaren behandeln zahlreiche Aufsätze bzw. Monographien auch neueren Datums diese Bibelstellen. Fast alle widmen sich Detailfragen; eine Ausnahme bildet Koch, der in seinem Buch als ein Beispiel der Bibelexegese neben anderen die Gefährdung der Ahnfrau behandelt und daher die meisten der methodischen Schritte vorführt.

Vorliegende Arbeit soll zunächst die ausführlichste Darstellung der Gefährdung der Ahnfrau, die Gen 20 umfaßt, exegesieren und dann die drei Parallelstellen miteinander vergleichen. Dabei soll ein Urteil darüber möglich werden, ob und inwiefern die drei Texte voneinander abhängig sind. Grundlage der Exegese ist neben dem Urtext die eigene Übersetzung, wie unter A. I. 2. präsentiert.

 

B. Hauptteil

I. Exegese von Gen 20

1. Textkritik

Bei der Gestaltung des Urtextes soll dem in der BHS dargebotenen Text in allen Teilen gefolgt werden und zwar aus folgenden Gründen. Im kritischen Apparat fallen vor allem sieben Abweichungen von ž in — auf. Dabei kann die Hinzufügung von ytdlwm Jramw in 13 als durch 12, 1 und die Hinzufügung von w psk pla in 14 als durch 16 bedingt angesehen werden. Die sonstigen Abweichungen sind sämtlich ohne größere Auswirkungen auf die Übersetzung. Einzig die Variante huth in 13 ist bedeutsam. Sie hätte die Übersetzung "Gott" statt "Götter" für myj¯Oaà zur Folge. Doch ergibt sich diese Übersetzung auch mit dem masoretischen Text, wenn man berücksichtigt, daß zusammen mit myj¯Oaà auch sonst pluralische Verben vorkommen können, wie Westermann anmerkt.3 Da hier nicht entschieden werden kann, welche Lesart nach inhaltlichen und sprachlichen Gesichtspunkten zu bevorzugen ist, soll ž als bedeutenderer Handschrift gefolgt werden. Zudem wird diese Stelle in der Literatur nicht textkritisch diskutiert (wie das ganze Kapitel). Im Dunkeln bleibt die zweite Hälfte von Vers 16, die auch in der Literatur als unklar angesehen wird.

 

2. Literarkritik

a) Anfang und Ende der Texteinheit

Das Kapitel beginnt in 1 mit neuem Verb, zu dem das Subjekt eingeführt wird. Der vorangehende Vers 19, 38 beschließt das Kapitel 19 auf zufriedenstellende Art und Weise. Störend wirkt in 20, 1 nur der Rückbezug auf Vorangegangenes durch "von da". Auch wenn Westermann meint, dies könne "nicht [eindeutig] festgelegt werden"5, bezieht sich dies wahrscheinlich auf Mamre bzw. Hebron, den Wohnort Abrahams, der zum letzten Mal in 18, 1 genannt wurde.6 Da ansonsten aber eine neue Erzählung begonnen wird, kann man 1 als Anfang beibehalten.

18 schließt die vorangegangenen Verse mit einer Begründung zu 17 ab; in 21, 1 beginnt eindeutig eine neue Erzählung. Somit kann auch 20, 18 als Ende der Texteinheit bestehen bleiben. Der zu untersuchende Text deckt sich also mit den vorgegebenen Kapitelgrenzen.

 

b) Einheitlichkeit der Texteinheit
(1) Wiederholungen

Da der Aufsatz von Seidl eine überzeugende Literarkritik bietet, die wesentlich ausführlicher ist als die diesbezüglichen Ausführungen anderer Autoren, folgt dieser Abschnitt weitgehend diesem Autor.

Der Text weist zwei störende Wiederholungen auf. Dazu zählt zunächst die doppelte Einleitung der Rede Gottes an Abimelech in 3a / 6a: "... im Traum der Nacht, und er sagte zu ihm: ..." / "... sagte zu ihm im Traum: ...". Da die erste Einleitung kontextuell notwendig ist, ist eher die zweite Einleitung sekundär, wo insbesondere die erneute Situierung der Rede im Traum als im Handlungsablauf überflüssig erscheint. Seidl führt als zusätzliches Argument die nur einmalige Nennung der Nacht auf.7 Eine weitere Wiederholung ist die zweifache Redeeinleitung in 9ab / 10a. Hier wäre die zweite Einleitung nicht notwendig, da nach der ersten kein Sprecherwechsel erfolgt. Seidl führt als dritte literarkritisch relevante Wiederholung die beiden Fragen "Was hast du uns angetan ..." und "Was hast du gesehen, daß ..." in 9c und 10b an.8 M. E. besitzt jedoch die zweite Frage eine andere Stoßrichtung als die erste.

 

(2) Spannungen

An vorderster Stelle steht bei den Spannungen das bereits oben erwähnte "von da" in 1a. Zudem sind die darauf folgenden Ortsangaben widersprüchlich. Wenn sich Abraham zwischen Kadesch und Schur niedergelassen hat, kann er nicht gleichzeitig als Schutzbürger in Gerar gelebt haben, denn Gerar liegt nicht zwischen Kadesch und Schur (vgl. u. B. I. 7.). Seidl folgert daraus, daß der Anfang von 1 "Teil eines selbständigen Itinerars" ist und die eigentliche Erzählung erst in 1c beginnt.9 Eine gewisse Spannung liegt in den unterschiedlichen Verhaltensweisen Gottes, der zum einen in 3.7 mit dem Tode droht, was einen vorausgegangenen Ehebruch annehmen läßt, und zum anderen in 6 um das unschuldige und zurückhaltende Verhalten Abimelechs weiß, wo ein vollzogener Ehebruch ausdrücklich ausgeschlossen ist.10 Die Begründung für die Rückgabe in 7bc ist zudem vom Kontext deutlich abgehoben; zweimal erscheint Abraham im Text überraschend als Prophet, in 7.17. Seidl sieht zwischen den Versen 9 und 10, ausgehend von seinem Befund der Wiederholung der Frage an dieser Stelle (s. o.) (abgesehen von der unzweifelhaften Wiederholung der Einleitung), eine größere Spannung.11 Auch ohne die Annahme einer Wiederholung fällt der stilistische Unterschied auf: emotionale Schilderung in 9, sachliche Knappheit in 10.

Ein weiterer Widerspruch bezieht sich auf die Frage, wer die Behauptung über das geschwisterliche Verhältnis zwischen Abraham und Sara verbreitet hat: Abraham, Sara, oder beide. Hier ergibt sich eine Spannung zwischen 5d.13 und 2.5b. Da 13 "weder als Entschuldigung für Abrahams Verhalten noch als Beschwichtigungsversuch gegenüber Abimelechs Vorwürfen befriedigt", sieht Seidl hier eine Erweiterung.12 Ungeklärt bleibt dadurch 5d.

Weitere Spannungen ergeben sich in 15 und 17, wo zum einen Abraham aufgefordert wird, sich niederzulassen, obwohl er bereits in Gerar wohnt (1), und zum anderen die Eigenschaft Abrahams als Prophet wieder aufgegriffen wird. Beides paßt nicht gut in den Kontext. 18 ist schon am anderen Gottesnamen Jahwe leicht als Ergänzung zu erkennen.

 

(3) Folgerungen

Hiermit ergibt sich für die Textgestalt folgendes: Von vornherein vom ursprünglichen Text verschieden sein dürften die Verse 1ab.7bc.13.15.17.18. Der nächste auszuscheidende Vers ist 6, da er aufgrund Wiederholung und Spannung stört. Da dadurch aber die Frage von Abimelech in 5 keine Antwort finden würde, gehört die Rede Abimelechs in 4.5 zur wahrscheinlich zur selben Erweiterung wie 6. Bei 9 und 10 läßt sich aufgrund der Spannungen und Wiederholungen allein noch nicht klären, welcher sekundär ist. Geht man davon aus, daß der kürzere Vers älter ist, scheidet 9 aus.13 Als eigentlicher Text ergibt sich 1c.2.3.7a.d-g.8.10.11.12.14.16.

Seidl geht noch weiter und trennt auch 16 vom ursprünglichen Text ab. Zudem nimmt er eine Einteilung der Erweiterungen in verschiedene Erweiterungsstufen vor, was hier nicht geleistet werden kann.14 Jedenfalls handelt es sich beim Text um eine erweiterte Einheit.

 

3. Sprachliche Analyse

Der ganze Text ist gut gegliedert durch relativ kurze Sätze und die hauptsächliche Verwendung des Waw-Imperfektes. Andere Tempora treten selten auf. In direkter oder indirekter Rede kommt Perfekt vor (siebenmal). Außerhalb von Rede tritt nur einmal Perfekt auf (in 16a). In Rede finden sich vier Nominalsätze sowie drei Imperative. Nur ein Partizip (in 7e) und ein Adjektiv (in 9e) kommen vor. An Stilmitteln fanden Parallelismus in 9cd und Figura etymologica in 7f.18a Verwendung. Die Erzählweise insgesamt wird gekennzeichnet durch einen ",nachholenden‘ Stil"15. So werden verschiedene Verse erst durch spätere Verse voll verständlich (wenn man ein Vorwissen aus der Textparallele Gen 12, 10-20 im jetzigen Stadium der Exegese vernachlässigt). Dazu zählt zunächst 2, wo nicht klar ist, warum Abraham die Lüge verbreitet, bis dies in 11 nachgeholt wird. Die Erklärung zu 4.6, warum Abimelech Sara zwar in seinen Harem geholt, aber noch nicht mit ihr geschlafen hatte, folgt in 17. Dieser Vers ist zwar eine Erklärung, aber selbst wieder erklärungsbedürftig durch 18. Daraus zeigt sich wieder, daß die Verse 17 und 18 eine spätere Erweiterung sind.

Der Text gliedert sich in eine Einleitung, in der über Abrahams Zug nach Gerar und die Verbreitung der Lüge berichtet wird sowie darüber, daß Abimelech Sara in seinen Harem nimmt, in eine Traumoffenbarung, in der es zum Gespräch zwischen Gott und Abimelech kommt, in einen kurzen Einschub mit dem Bericht Abimelechs an seine Diener, in ein Gespräch Abimelechs mit Abraham, in dem letzterer zur Rede gestellt wird, und in einen Schlußteil, der von Abimelechs Wiedergutmachung und dem auch für ihn glücklichen Ausgang handelt. Der Höhepunkt liegt am Ende der Rede Abimelechs mit Abraham; hier wäre nämlich auch ein anderer Ausgang denkbar, so könnte Abimelech z. B. zwar Abraham seine Frau zurückgeben, aber ihn auch für seine Lüge bestrafen.

 

4. Form- und Gattungskritik

An vergleichbaren Erzählungen zu Gen 20 finden sich die oben erwähnten beiden Parallelstellen. Sie können aber nicht zur Ermittlung von Form und Gattung herangezogen werden, da von einer literarischen Abhängigkeit auszugehen ist (zum Verhältnis später). Einzelne Motive der Erzählung finden sich dagegen auch an anderen Stellen; dazu im nächsten Abschnitt.

Zur Bestimmung der Gattung verbleiben nur die Charakteristika des vorliegenden Textes. Dieser verzichtet ganz auf eine Datierung, gibt aber genaue (wenn auch widersprüchliche) Ortsangaben. Beim Text handelt es sich, um ihn immer näher einzugrenzen, um Prosa und zwar um eine Erzählung, genauer um eine Sage. Darin stimmen die Exegeten überein. Innerhalb dieses Rahmens gibt es allerdings Auslegungsunterschiede. "In solchen Sagen spiegelt sich also das Verhältnis der Abrahams- und Isaaks-Leute mit ihren auffallend schönen Frauen gegenüber den verweichlichten, lüsternen Kulturlandvölkern."16 Dem folgend, schreibt Deurloo: "Der Ursprung der Erzählung wird in (...) mündlicher Tradition entdeckt. Solche Geschichten passen in den Kreis von Kleinviehnomaden (...) Es handelt sich um prickelnde Geschichten: Wie hat der Erzvater doch geschickt gelogen (...) Sie hat ihre verweichlichten städtischen Geschlechtsgenossinnen so sehr ausgestochen (...) Wie spannend!"17 Nach Arenhoevel ist die Erzählung ein "derber Schwank"18, Gunkel nennt sie eine "ethnologische Sage"19. Eine scharfe Gegenposition zu Koch und Deurloo nimmt Westermann ein, indem er (im Kommentar zum Paralleltext in Gen 12, 10-20) sagt: "Die Erzählung verherrlicht nicht die Klugheit Abrahams; (...) Sie verherrlicht auch nicht die Schönheit der Mutter; (...) Daß die Erzählung von der treuen Hilfe Jahwes handelt, ist richtig; aber es ist eine mit einer Zurechtweisung verbundene Hilfe."20 Im ersten Teil dieser Aussage wird Westermann durch von Rad gestützt: "Die persönliche Tadellosigkeit des heidnischen Königs wird von dem Erzähler bis zur tiefen Beschämung Abrahams herausgearbeitet."21 Die Erzählung dürfte jedoch durchaus die Schönheit der Ahnfrau preisen, selbst wenn dies nicht die zentrale Aussage des Textes ist.

Entsprechend ihrer Gattung ergibt sich der Sitz im Leben dieser Sage. Sie wird bei den Nomaden erzählt worden sein. Diese Position vertritt z. B. Koch, der den Sitz im Leben besonders ausmalt: "Die Gefährdung der Ahnfrau wird von Männern erzählt worden sein, etwa am Abend vor den Zelten, wenn die Herden versorgt waren und die Kinder schliefen. (...) Auch in sittlicher Beziehung weiß man um die eigene Überlegenheit [der Nomaden über die Kulturlandbewohner]; weiblichen Reizen gegenüber sind die Stadtbewohner schwach und hemmungslos (...). So schnell läßt sich ein Isaakmann nicht hinreißen!"22 Gegen die mündliche Entstehung und anfänglich mündliche Weitergabe von Gen 20 wendet sich aber Westermann. "(...) im Vergleich von Gn 12 und 20 [ist] (...) nur Gn 12, 10-20 eine eindeutig mündlich entstandene Erzählung von Abraham. 20, 1-18 dagegen ist eine aus dem Nachdenken über die bekannte Erzählung erwachsene Nacherzählung, die schon die Merkmale schriftlicher Entstehung zeigt (...)" Auf jeden Fall aber wurden in dieser Sage alte Erfahrungen der Nomaden aufgenommen.24

 

5. Motiv- und Traditionskritik

Das Kapitel 20 enthält verhältnismäßig viele Motive. Wenn man davon ausgeht, daß als Motivation für Abrahams Wanderung ursprünglich wie in Gen 12, 10 und Gen 26, 1 auch in Gen 20 eine Hungersnot erwähnt wurde, die dann bei der Überlieferung ausgelassen wurde, "um nicht zu oft von Hungersnöten zu erzählen"25, fängt der Text mit dem häufigen Motiv der Hungersnot an. Es findet sich im AT 18mal, darunter besonders oft in Gen, wo es neben den beiden Vorkommen im Rahmen der Gefährdung der Ahnfrau bei der Josefsgeschichte breit ausgebaut ist. Neben Büchern der Geschichtsschreibung tritt das Motiv auch bei Jeremia (52, 6), bei Ezechiel (5, 17; 36, 29.30) und in den Psalmen (33, 19) auf. Ein weiteres Motiv ist der Aufenthalt in der Fremde. Es kommt im AT weit über 100mal vor und zwar in allen Arten von Büchern. Die Aneignung der schönen Frau durch einen Mächtigen ist nach Westermann ebenfalls Motiv, das noch in Gen 6, 1-4 (Gottessöhne) und 2 Sam 11f. (David und Batseba) auftritt.27

Auch der Traum (Abimelechs) ist ein oft auftauchendes Motiv. Gerade die Offenbarung Gottes an einen Nicht-Israeliten steht im hier besprochenen Text im Vordergrund. Dieses Motiv findet sich noch in Gen 31, 24 (Laban) und Dan 2, 28.45 (Nebukadnezzar). Träume allgemein finden sich sehr viel häufiger, verteilt über das ganze AT, mit deutlichen Häufungen in Gen und Dan. Keller nennt als Quelle des Traummotivs ein "elementares Bedürfnis des Menschen und seines Kultus: Von Gott Weisung zu erhalten über sein Leben."28 Westermann bestreitet allerdings, daß der Traum Abimelechs real ist. "Eine Rechtsverhandlung kann nicht Gegenstand eines Traumes sein; Beschuldigung, Strafspruch wie auch die Verteidigung können kein Traum sein. Daß Gott im Traum zu Abimelek gesprochen habe, ist hier nur literarische Einkleidung (...) Der Rahmen (Traum) ermöglicht nur das Gespräch zwischen Gott und dem kanaanäischen König."29 Hier ist zum einen zu fragen, ob eine Rechtsverhandlung nicht doch Gegenstand eines Traumes sein kann und zum anderen, ob, wenn Westermann recht zu geben ist, dann nicht genauso alle Traumoffenbarungen nur literarisches Mittel sind. Dies ist hier nicht zu entscheiden, denn am Motivcharakter des Traumes ändert es nichts.

Die Rede eines Königs an seinen Untergebenen ist nach Koch ein Motiv, das auch, abgesehen von Vorkommen in Ahnfrauenerzählungen, in Gen 3, 13 (Gott und Eva); 29, 25 (Jakob und Laban) und Num 23, 11 (Balak und Bileam) zu finden ist.30 Die vorwurfsvolle Frage "Was hast du uns angetan?" innerhalb dieses Gesprächs ist ein weiteres Motiv, das im AT ca. vierzigmal vorkommt, verteilt über die meisten Bücher, mehr in der Geschichtsschreibung, aber auch bei Propheten.

Die Fürsprache Abrahams als Prophet für Abimelech wurde von Keller als Motiv identifiziert; er führt als weitere Vorkommen die Stellen 1 Sam 12, 19 (Samuel); 2 Kön 19, 4 (Jesaja); Ijob 42, 8ff. (Ijob); Jer 15, 1 (Mose und Samuel) auf.31

Als "psychologisch begründet[es]" "Grundmotiv" der Erzählung kann die "Lüge"32 Abrahams angesehen werden;33 der Beweggrund für sein Handeln liegt in einem "Urmotiv der Menschenseele", nämlich einer "Ur-Furcht des Mannes, seine schöne Frau zu verlieren bzw. um ihretwillen zu Schaden zu kommen."34 Keller führt hier als weitere Stellen mit diesem Motiv Gen 38, 7; Ex 4, 24-26; Tob 3, 8 an. Zu berücksichtigen ist aber, daß das Motiv sich in diesen Texten "in ,mythologisch‘ abgewandelter Form findet"35. Es kommt viel deutlicher zum Ausdruck in der Erzählung von David, Urija und Batseba (2 Sam 11, 1 - 12, 25).36 Gunkel verweist zudem auf die Realität: "so handeln orientalische Könige; die schönen Frauen ihres Landes, deren sie habhaft werden können, kommen in ihren Harem. Und die Höflinge [die in der Parallele Gen 12, 10-20 auftauchen!] spielen die Kuppler."37 Bei allen Motiven handelt es sich nicht um Traditionen; ein Überlieferungsinteresse läßt sich nicht erkennen. Höchstens der Traum mit Offenbarung geht in die Richtung einer Tradition: ein Nicht-Israelit hat nur im Traum Zugang zu Elohim / Jahwe.

 

6. Überlieferungs-, Kompositions- und Redaktionskritik, Zeit- und Verfasserfrage

Überlieferungs-, kompositions- und redaktionskritische Fragen führen beim vorliegenden Text zu einem Vergleich der drei Parallelen. Da dieser Vergleich erst im zweiten Teil der vorliegenden Abhandlung Thema sein soll (vgl. B. II. 2.), werden diese Fragestellungen hier ausgeblendet. Von Interesse ist hier vor allem die Zeit- und Verfasserfrage.

Den Charakter des Stückes als literarischer Einheit beschreibt Westermann: "Gn 20, 1-18 ist keine Erzählung im eigentlichen Sinn. [Es] bleibt zwar im Rahmen einer Erzählung, hat aber seine Mitte in der Reflexion über das, was in Kap. 12 erzählt wird. Kap. 20 setzt dabei Kap. 12 als bekannt voraus (...) Als Erzählung ist das Ganze denkbar schlecht; es will auch eher ein Suchen nach Antworten auf Fragen sein, die die alte Erzählung von Abraham aufgab. (...) es geht um die Frage: Wer ist schuld an dem Schaden, der angerichtet wurde?"38 Diese Nacherzählung sticht im Kontext des Genesis-Buches heraus. Während Sara in den Kapiteln zuvor und danach eine alte Frau ist, die auf wunderbare Weise noch einen Sohn empfangen soll, wird sie hier in Kapitel 20 als schön und begehrenswert und damit jung (oder zumindest jünger) geschildert. Auch hätte sich ihre Schwangerschaft mit dem Aufenthalt im Harem überschnitten, was allerdings, gerade in den frühen Monaten der Schwangerschaft, denkbar wäre.

In der Verfasserfrage besteht ein allgemeiner Konsens unter den Exegeten, den Text dem Elohisten zuzuordnen. Dafür wird als erstes Merkmal der Gottesname myj¯Oaà genannt.39 Weitere typische Worte sind u. a.40 hm*a* statt hj*p=v¯ und bb*l= statt bl@. Das bedeutendste inhaltliche Merkmal ist die Tatsache, daß Gott sich im Traum offenbart.42 Andere Anhaltspunkte sind stilistischer Art: die Neigung zu einer "auffällig nachholende[n] Art der Erzählung", zu langen Reden,43 zu Erklärung und Rechtfertigung.44 Nach Skinner ist die Bezeichnung Abrahams als Prophet J zumindest fremd.46

Zum Elohisten als pentateuchkritischer Hypothese sind selbstverständlich keine exakten Angaben möglich. Es wird von einer Herkunft aus prophetischen Kreisen aus dem Nordreich Israel und von einer Entstehungszeit im späten neunten bis frühen achten vorchristlichen Jahrhundert ausgegangen.47

 

7. Einzelauslegung und zusammenfassende Exegese

Dieser Abschnitt soll drei inhaltliche Gesichtspunkte näher beleuchten: die Frage des Ortes der Handlung, die Bezeichnung Abrahams als Prophet und das (angeblich) stiefgeschwisterliche Verhältnis zwischen Abraham und Sara. — Wie bereits gesagt, ergibt sich zwischen den einzelnen Ortsangaben im Text in 1 eine deutliche Spannung. Der Negeb und Kadesch und Schur lassen sich noch miteinander vereinbaren, da Kadesch und Schur noch zum südlichen Rand des Negeb gezählt werden können. Doch Gerar liegt zwischen fünfzig und hundert Kilometer nördlich davon in der Nähe von Gaza und damit nicht mehr zwischen Kadesch und Schur. Die genaue Lage von Gerar ist umstritten.48 Während andere Autoren meinen, am Anfang des Verses sei ursprünglich in Parallelität zu Gen 12, 10; 26, 1 eine Hungersnot erwähnt gewesen, und den Vers literarkritisch bearbeiten, schlägt Gunkel vor, die Hungersnot sei zwischen 1b und 1c ausgefallen, was die Spannung erkläre: Abraham sei aufgrund der Hungersnot vom Negeb nach Gerar weitergezogen.50

Die Bezeichnung Abrahams als Prophet ist außergewöhnlich.51 Sie meint hier einen ",Gottesmann‘, dessen Eigentum in Gottes Hut steht, dessen Sache Gott vertritt, auf dessen Wort Gott hört."52 Bemerkenswert dabei ist, daß Abraham trotz seiner Schuld die Funktion eines derart für Abimelech bittenden Propheten wahrnehmen kann und soll. Da die Eigenschaft Abrahams als Prophet hier nur eine konstruierte Begründung für die Rückgabe der Frau ist, deutet dieser Vers nicht auf eine tabuisierte Stellung des Propheten hin.53

Das Verhältnis zwischen Abraham und Sara ist zunächst das eines Ehepaares. Ob es auch das zweier Stiefgeschwister ist, läßt sich nicht mit Sicherheit klären; die Meinungen der Exegeten gehen auseinander, doch erscheint die Theorie einer aus der Not geborenen, ad hoc ersonnenen Konstruktion dieses Verhältnisses am plausibelsten.54 Abraham brauchte diese Notlüge, um zu überleben. Diese Taktik ging auf, und Abimelech glaubte Abraham (16). Rein sachlich kann es sich um eine Notlüge gehandelt haben. Zwar bestreitet dies Heinisch mit der Begründung, da Ehen zwischen Stiefgeschwistern nicht erlaubt gewesen seien, müsse es sich hier um einen wahren, gegen dieses Verbot verstoßenden Sachverhalt handeln, aber alle anderen Autoren sind der Ansicht, daß in früher Zeit Ehen zwischen Stiefgeschwistern erlaubt waren und erst in späterer Zeit verboten wurden.56 Zur Möglichkeit der Ehe zwischen Stiefgeschwistern gibt Speiser einen interessanten Exkurs:

Davon ausgehend wird auch klar, welch ernste Übertretung Abimelech begangen hat, von der er nur freigesprochen wird, weil er nicht wissentlich gehandelt hat. Daß zur Rückgabe von Abrahams Frau auch Geschenke gehörten, scheint übliche Praxis gewesen zu sein.58

 

8. Theologische Kritik

Ein Charakteristikum der im hier behandelten Text vorkommenden Rede von Gott wurde bei den Merkmalen für die Zuordnung zu E schon genannt: die Offenbarung Gottes in einem Traum. Gott wendet sich dabei an einen Nicht-Israeliten und zeigt sich damit als ein universaler Gott, der seine Macht nicht nur auf Israel beschränkt. Denn zwar kommen in der Erzählung auch Abraham und seine Frau vor, doch die Offenbarung wird Abimelech zuteil, und dieser wird vom Erzähler auch als der Untadeligere der beiden Protagonisten geschildert. Dies ist beachtenswert: Ein Nicht-Israelit steht besser da als der Israelit. Abimelech wird als gottesfürchtig beschrieben (wodurch sich eine weitere Befürchtung Abrahams als unzutreffend erweist), und Abraham wird beschämt. Wenn man die späteren Erweiterungen des Textes hinzunimmt, fällt die andere Seite des Verhaltens Gottes auf: nach Absicht und Schuld zu fragen und nicht blind nach dem Anschein zu vergelten. Das kann dann, nach entsprechender Sühneleistung (Rückgabe der Frau, freiwillig verbunden mit reichen Geschenken) und Fürbitte, zur vollen Vergebung und Heilung führen. Hier wird "ein Stück Glaubensgeschichte deutlich. (...) Die Religion wird [im Laufe der Zeit] psychologisiert und moralisiert (...)."

 

II. Vergleich von Gen 20 mit den beiden Parallelstellen

1. Auffallende Unterschiede zu Gen 20 in ...

a) ... Gen 12, 10 - 20

In der ersten der drei Ahnfrauengeschichten sind auch Abraham und Sara (damals noch Abram und Sarai geheißen) die Hauptpersonen. Sie ziehen hier jedoch nach Ägypten, und demzufolge ist der Herrscher, der Abraham zur Rede stellt, der Pharao. Die Erzählung nimmt hier grundsätzlich einen geordneteren Verlauf; es sind keine Nachholungen wie in Gen 20 notwendig. Abraham fordert seine Frau auf, für ihn zu lügen; seine Taktik geht auf, erhält er Geschenke. Diese Geschenke sind zu diesem Zeitpunkt denkbar; aufgrund der oben berichteten Sühnepraxis wären sie aber eher nach der Rückgabe der Frau zu erwarten. Zudem fehlen sie in der Variante in Gen 26, 1-11. Zwar werden die Plagen, durch die der Pharao auf ein Vergehen aufmerksam wird, hier zum richtigen Zeitpunkt erwähnt, doch fehlt das entscheidende Bindeglied: eine Offenbarung oder ein konkreter Hinweis, durch den der Pharao weiß, daß Sara der Grund der Plagen ist. Ohne dies erscheint das Zurredestellen Abrahams als nur halb motiviert. Der Pharao hat sich hier Sara zur Frau genommen, während Abimelech anderweitig verheiratet war (20, 17) und Sara lediglich in seinen Harem nahm. Sicherlich muß "zur Frau nehmen" nicht unbedingt ein heiratsähnliches Verhältnis meinen. Doch erscheint hier der vollzogene Beischlaf als viel wahrscheinlicher als in Gen 20, wo er expressis verbis ausgeschlossen wird. Die Entlassung Abrahams ist hier, da die Geschenke fehlen, wesentlich beschämender als in Gen 20. Die betont knappe Formulierung "Und nun: da hast du deine Frau! Nimm sie und geh!" zeigt, daß Abraham wie ein Hund vor die Tür gejagt wird. Er wird sogar mit einer Eskorte fortgeleitet, damit, so kann ergänzt werden, er sich garantiert außer Landes begibt.

 

b) ... Gen 26, 1-11

Die Betrachtung dieser Textvariante soll sich auf die eigentliche Parallele zu den anderen Ahnfrauengeschichten in 26, 1.6-11 beschränken. — Hier wird wie in 12, 10-20 eine Hungersnot als Ursache für das Fortgehen aus der Heimat genannt und ausdrücklich von der Hungersnot in der ersten Variante unterschieden. Das beweist eine Kenntnis der anderen Textstelle. Wie in Gen 20 ziehen die beiden Hauptpersonen nach Gerar zu Abimelech (der hier König der Philister genannt wird), doch handelt es sich jetzt um Isaak und Rebekka. Isaak verbreitet hier selbst die Lüge über seine Frau und bittet diese nicht darum. Abimelech entdeckt das wahre Verhältnis zwischen Isaak und Rebekka selbst, ohne göttliche Offenbarung, ohne Plagen, ohne daß er (oder ein anderer Einwohner von Gerar) Rebekka überhaupt zu sich genommen hätte. Zu einer Rückgabe- und Sühnehandlung muß es hier also nicht kommen; um auch für die Zukunft Unheil zu vermeiden, wird Isaak in einen besonders geschützten Status versetzt. Denselben Effekt hat die Verweisung Abrahams aus dem Land in Gen 12, 20, während in Gen 20 Abraham im Lande bleiben darf, ohne besonders geschützt zu sein. Dort geht Abimelech offenbar davon aus, daß Abraham aus der Erfahrung gelernt hat und fortan nichts Unwahres mehr über das Verhältnis zu seiner Frau verbreitet.

In der Zusammenschau mit den beiden Parallelen in Gen 12, 10-20 und Gen 26, 1-11 ergibt sich für Gen 20 eine auch inhaltliche Zwischenstellung:

2. Zeitliches Verhältnis und Beeinflussung der Parallelstellen untereinander. Überlieferungs-, Redaktions- und Kompositionskritik

Entsprechend dieser Zwischenstellung von Gen 20 soll versucht werden, die vorhandenen Bezüge zwischen den Paralleltexten zu verdeutlichen und zu strukturieren. Die Frage der gegenseitigen Beeinflussung läuft hinaus auf die Frage, welche der drei Textversionen die älteste ist. Diese Frage ist umstritten. Zwei Lösungsmodelle für die Abfolge der drei Erzählungen, geordnet nach ihrem Alter, werden erwogen: Gen 12, 10-20 — Gen 20 — Gen 26, 1-11 oder genau umgekehrt. Gen 20 nimmt auch bei der Entstehung des Textes auf jeden Fall eine Mittelstellung ein. Im Gegensatz zu Gen 20 stammen die beiden anderen Varianten nach allgemeiner Auffassung von J. In Gen 26, 1-11 ergibt sich dabei das Problem, daß in 25, 22ff. schon die Geburt von Esau und Jakob berichtet wurde, während in 26, 1-11 Isaak und Rebekka noch kinderlos sind. Entweder stammt die dritte Ahnfrauenerzählung daher aus einer zweiten jahwistischen Quelle, oder die Reihenfolge der Erzählung war früher anders und es erfolgte eine Endredaktion, die die Reihenfolge änderte.63

Als Vertreter der Richtung, die Gen 12, 10-20 für die älteste Version hält, sei Gunkel zitiert:

Die Gegenposition vertritt Maly:

Diese Argumente sind an drei Stellen zu hinterfragen. Es ist entschieden anzuzweifeln, daß Abraham nicht wußte, daß sein Leben wegen Sara in Gefahr sein würde, bevor er in die Stadt kam; vielmehr ist das Gegenteil anzunehmen, da es sich um eine allgemein bekannte Tatsache gehandelt haben dürfte. Wenn Maly bezüglich des religiöseren Tons von einer späteren Redaktion spricht, sei dies sachlich dahingestellt; es hilft aber bei der Frage nach der Entstehungszeit nicht. Zudem ist nicht klar, warum es unnatürlich sein sollte, daß die Prinzen des Pharao für diesen auf Brautschau gehen. Da Malys Argumentation also zumindest nicht frei von Zweifeln ist, soll hier bezüglich der Entstehungsreihenfolge Gunkel gefolgt werden. Dessen Ergebnis bedeutet nicht, "dass alle einzelnen Züge von 20 jünger sind als von 12, und die von 26 als die von 20"66 und auch nicht, "daß A [Gen 12, 10-20] die mündliche Vorstufe oder gar schriftliche Vorlage zu den beiden anderen Abschnitten ist. Vielmehr ist das Verhältnis verwickelter (...)" Es muß also eine gemeinsame Urerzählung gegeben haben, die Koch mittels zeitlicher Einordnung der Unterschiede zwischen den drei Fassungen zu eruieren versucht.68

Koch hält Abimelech und Gerar für älter als Ägypten mit dem Pharao, weil sie zum einen zweimal vorkommen und zum anderen unbekannter sind. Bezüglich der Erwähnung oder Nicht-Erwähnung eines vollzogenen Ehebruches sieht er die Variante 12, 10-20 als die älteste an. Zum gleichen Urteil kommt er bei der Aufdeckung der Lüge, zu der es in der ersten Version durch "eine fremde Gottheit oder einen Wahrsager" kommt, was "am wenigsten zum späten Geist des Alten Testaments paßt"69. Auch bei den Geschenken, die Abraham zu unterschiedlichen Zeitpunkten erhält (bzw. Isaak erst nach der Episode durch Gott), fällt Koch dasselbe Urteil. Er führt auch Gunkels Argument des unterschiedlichen Stils an, das oben schon zitiert wurde. Bei den unterschiedlichen Namen der Protagonisten Abraham und Isaak glaubt Koch, daß Isaak der ursprüngliche, weil unbekanntere, ist. Die aus diesen Befunden sich ergebende "Grunderzählung"70 dürfte sein:

Bis auf den letzten Satz erscheint dies plausibel; es ist lediglich nicht davon auszugehen, daß in der Urerzählung auch am Ende Geschenke vorkamen, wenn Koch mit seiner Behauptung recht hat, daß bezüglich der Geschenke die Version in Gen 12, 10-20 die älteste ist, denn dort erhält der Patriarch keine Geschenke, nachdem er zur Rede gestellt worden war.

Ausgehend von dieser ursprünglichen Geschichte, die mündlich in Umlauf gewesen sein dürfte, wurden dann die drei Versionen in ihrer zeitlichen Reihenfolge geschrieben. Wie sie damals aussahen, läßt sich nicht mehr sagen, denn danach erfolgten Redaktionen. Diese sind dort feststellbar, wo eine an sich ältere Erzählung nicht das ursprüngliche Detail erhalten hat (also bei den Namen der beiden Protagonisten Abraham / Isaak und Pharao / Abimelech sowie des Ortes Ägypten / Gerar), aber weitere, jetzt nicht mehr feststellbare Redaktionen sind nicht auszuschließen. Zu denken ist auch an die literarkritisch ausgemachten erweiternden Redaktionen. — Eine Redaktion muß daher in Gen 12, 10-20 Ägypten und den Pharao eingesetzt haben, eine andere (oder zwei andere) muß (bzw. müssen) in Gen 12, 10-20; 20 Abraham eingesetzt haben. Umfang und zeitliche Ansetzung bzw. Abfolge von mündlicher Überlieferung, Verschriftlichung und Redaktionen lassen sich nicht erschließen.72 Bei der Verschriftlichung wußte E von der Version in 12, 10-20, da er sie reflektiert, und der jahwistische Autor in 26, 1-11 wußte zumindest von der Parallele in 12, 10-20, da er auf sie verweist. Die Variante in 20 kannte er wahrscheinlich nicht.

 

C. Schluß

Die Gefährdung der Ahnfrau muß für die Israeliten eine sehr interessante und wichtige Geschichte gewesen sein, was durch die Existenz dreier Paralleltexte bewiesen wird. An dieser Erzählung mit ihren verschiedenen Redaktionen wird deutlich, daß sich die Menschen während des langen Entstehungsprozesses dessen, was heute das AT bildet, zu allen Zeiten intensiv mit den überkommenen Texten auseinandergesetzt haben. Eine ernsthafte Beschäftigung mit den Bibeltexten heute kann einiges über das damalige Verhältnis zum Text offenbaren, was für ein besseres heutiges Verstehen nur dienlich sein kann.

 

Literaturverzeichnis

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